Der folgende Beitrag ist die zweite Lieferung meiner Erörterung des Buchs „Die Erfindung des Ich: Eine Theorie der Identität“von Jean-Claude Kaufmann, in der ich Kaufmanns Argumentation zusammenfasse und bezogen auf einige mir interessant erscheinende Themenbereiche diskutiere. Im folgenden werde ich kurz meine erste Lieferung zusammenfassen, um mich dann ausführlich Kaufmanns drittem Teil zu widmen. Kaufmann überträgt hierin seine Überlegungen zum Identitätsprozess auf die Gesellschaft, auf ihre Milieus und Phänomene. Unter der Überschrift des klassischen Dreiklangs „Voice, Exit and Loyality“ seziert Kaufmann individuelle und kollektive Verhaltensmuster, die quer durch alle Schichten in unterschiedlicher Form und Ausprägung zu Tage treten.
1. Das kreative Ich und die Gruppe
Im ersten und zweiten Teil seines Buchs hat Kaufmann den Leser von der Vorstellung entwöhnt, die eigene Identität sei etwas unveränderliches. Im Gegenteil ist Identität höchst veränderlich, wobei sich die Zahl der Identitäten, über die ein Individuum verfügt, im Verlauf des Identitätsprozesses vervielfacht. Das Individuum ist hierfür mitverantwortlich. Weil es die Widersprüche der heutigen Sozialisationserfahrungen unmöglich machen, ihnen das eigene Leben und dessen Sinn zu überlassen, ist das Individuum gezwungen, seinem Leben kontinuierlich selbst Sinn zu geben, indem es seine Identität selbst erfindet – im Rückgriff auf das nicht erfundene Material seiner Biographie. Hierzu ist das Individuum durch seine Kreativität und seine Urteilskraft als Bestandteile seines freien Willens befähigt. Und es nutzt diese Fähigkeit aus, ständig einen neuen Sinn, eine neue Identität zu kreieren, wann immer es nötig wird.
Der Glaube an die Beständigkeit einer bestimmten, ganz eigenen Identität dient dabei als Mechanismus des Selbstschutzes. Das Individuum muss seine nachdenkliche Kreativität im Zaum halten, um handlungsfähig zu bleiben, nicht ins grübeln zu geraten und über der Unbeständigkeit des Sinns zu verzweifeln. Das Bedürfnis nach einem belastbaren Sinn des eigenen Lebens befriedigt das Individuum, indem es im Rückblick eine Selbsterzählung ohne Brüche entwirft und in Denkmustern aufbewahrt, die es wie Mantras wiederholt. Den Anschein eines bruchlosen Zusammenhangs aller zurückliegenden Identitäten erreicht das Ich, indem es Brüche entweder als sinnvolle Ereignisse in seine Erzählung integriert oder sie ignoriert. Zusätzlich wird der Eindruck der Beständigkeit der Identität durch das Rechts- und Verwaltungswesen begünstigt. Die verwaltungstechnische Festschreibung einiger weniger Kriterien der Identität macht sie zur Institution innerhalb eines Institutionensystems.
Identität liegt also im Verfügungsbereich des freien Willens des Individuums. Die Möglichkeit ihrer Gestaltung und der Umfang der dabei möglichen Innovation wird jedoch von den Anderen mitbestimmt – der Gruppe, der Gesellschaft und ihren Institutionen. Erstens übersteigt die Zahl der für die Identität maßgebenden, zu beurteilenden und zur Entscheidung stehenden Umstände die Kapazität des Individuums, sodass ein Teil seiner Identität immer dem Zufall der gesellschaftlich gesetzten Rahmenbedingungen überlassen bleibt. Unabhängig davon aber ist das Individuum zweitens auch deshalb auf die Anderen – auf Gruppen und Institutionen – angewiesen, weil es sie als Rahmen der eigenen Identitätskonstruktion, als Lieferanten „bedeutsamer Inhalte“, als Hort „kollektiver Gewissheiten“ und als Möglichkeit der Anerkennung und Selbstvergewisserung braucht. Im Moment der Isolation gerät die Sinnhaftigkeit der eigenen Identität rasch ins Wanken, weil sie vielfach an Gruppen und deren Projekte gekoppelt ist. Mangelt es an Anerkennung durch die Anderen, ist das Individuum zur Anpassung bereit – auch unter Verzicht auf Eigenschaften der für sich selbst festgelegten Identität.
Die Gesellschaft – vermittelt durch die Gruppen, denen das Individuum angehören kann – stellt nicht nur den Rahmen der Identitätskonstruktion des Individuums dar. Sie und ihre Probleme werden ihrerseits durch die Identitätskonstruktion des Individuums bestimmt, durch seine dabei erlebten Schwierigkeiten und durch seine zu ihrer Lösung verfolgten Strategien. Identitätskonstruktion ist daher Kaufmann zufolge „keine private, persönliche Frage“, denn sie definiert „die gesamte soziale Frage neu“.
Als neu erkennt Kaufmann die Verlagerung der Ungleichheit weg von einer Ungleichheit der Gruppen hin zu einer Ungleichheit der „Vorstellung von sich selbst“. Grundlage dieses Wandels ist die Ausbreitung des Konsens, alle Individuen seien gleich in ihrer Verantwortung für das Gelingen des eigenen Lebens. Das Leben werde nicht mehr als „Schicksal“ angesehen, sondern als machbar. Seither gehe es nicht mehr nur um das physische Überleben, sondern vor allem auch um das seelische Überleben; um „Leid aufgrund des Mangels an Sinn und Selbstachtung.“ (vgl. Kaufmann 2005, S.211f) Auch materielle Ungleichheit werde fortan vor dem Hintergrund der Vorstellung von sich selbst wahrgenommen; als eigene Schuld. Das für das Subjekt Reale ist nicht mehr durch seine Position in der Gesellschaft festgelegt, denn „die möglichen Arten, sich selbst zu konstruieren“ sind unabhängig von der gesellschaftlichen Position ungleich verteilt. Diese Ungleichverteilung korrespondiert zwar mit der spezifischen Verteilung von Ressourcen, ist jedoch nicht schichtspezifisch, sondern zieht sich quer durch alle Schichten abhängig von der Geschichte des jeweiligen Individuums.
Kaufmann betrachtet zunächst Verhaltensweisen von Individuen, die im Identitätsprozess gesellschaftlich unterlegen sind, weil sie nicht über ausreichende Ressourcen für die Teilnahme an fortwährenden Identitätsprozessen besitzen und die sich daher entweder vom Identitätsprozess zurückziehen oder aber sich in emotionalen Ausbrüchen zu emanzipieren versuchen. Danach fokussiert er auf die Strategie der Subjekte, sich an Institutionen zu binden, um zu einem ausgeglichenem und gelingendem Leben zu finden.
„Exit“ ist eine der ältesten Strategien, mit dem Identitätsprozess umzugehen. Er wird praktiziert als ein Rückzug auf „ein eintöniges Selbstsein, das für die anderen an Unsichtbarkeit grenzt“. Dieser Rückzug entspringt zumeist aus der Ablehnung des Konkurrenzkampfs, der ehedem nicht zu gewinnen zu sein scheint. Er beinhaltet, dass auch die Identitätsarbeit abgelehnt wird. Das Individuum, das sich dieser Strategie verschreibt, versucht einfach zu sein, was es ist und was das Leben aus ihm gemacht hat. Es versucht der Versuchung zu widerstehen, große Pläne zu schmieden und begrenzt seine Pläne auf kleine Vorhaben, die Aussicht auf Erfolg haben, ohne mit der defensiven Positionierung brechen zu müssen. Das Individuum klammert sich an seine Lebensrealität. Kaufmann sieht diese „Weisheit“ in einer „heimlichen Kultur“ einer „Kunst des Lebens“ geborgen, die im Kreise der „kleinen Leute“ von Generation zu Generation weitergegeben wird: „mit dem auszukommen, was man hat und was man ist, Glück und menschliche Wärme in kleinen Belanglosigkeiten zu finden.“ (siehe Kaufmann, S.241f) Der Gefahr, das Leben fade zu finden, wird dabei mit dem Prinzip der Wertschätzung der kleinen Dinge und Handlungen begegnet. Der Gefahr der Unzufriedenheit in Folge der „Abschweifungen der Fantasie“, des unkontrollierten Anschwellens der Wünsche und Träume, begegnet das Individuum mit seiner Fähigkeit zur Bescheidenheit.
Interessant an der Strategie des Rückzugs ist die Ablehnung des Planens. Denn sie führt zu einer anderen Wahrnehmung der Zeit. Erst mit dem Plan entsteht das Problem seiner Verwirklichung. Das Potential möglicher Selbste und Lebensprojekte auszuschöpfen setzt Zeit voraus. Sie alle zu verwirklichen übersteigt rasch die zur Verfügung stehenden Zeitressourcen. Auf Pläne zu verzichten birgt insofern einen Zeitgewinn, der potentiell Ruhe, möglicherweise aber auch Langeweile bedeutet. (siehe Kaufmann 2005, S.246) Daraus folgt letztlich auch das gespannte Verhältnis der „kleinen Leute“ zur Bilderflut der Massenmedien. Sie bieten die Möglichkeit der „Fantasiereise“ und der „Dezentrierung des Individuums“ und bieten Anregung zum Entwurf von Plänen unter Verwendung des Geschauten, ohne dass die Individuen sich darüber im klaren sind. (vgl. Kaufmann 2005, S.266ff) Die Langeweile wird so unter Umständen zum Einfallstor der Manipulation der Identitätsprozesse mittels der Erzeugung spezifischer Bilderwelten, was sich neben Werbung nicht zuletzt auch die Politik zunutze machen kann.
Wenn die Anerkennung der eigenen Existenzform prekär wird und Stigmatisierung erleidet, sodass die Selbstachtung auch durch Bescheidenheit und Wertschätzung der Dinge im Kleinen nicht mehr möglich ist, wird der Identitätsprozess aufgezwungen. Der Entwurf alternativer möglicher Selbste und Sinnkonstruktionen wird dann unausweichlich. Das Individuum ist dann gezwungen, sich zu erheben und seine Ansprüche geltend zu machen. Seine Strategie heißt in diesem Moment „Voice“.
Das Niveau der „identitären Kreativität“ hängt dabei von der Ausstattung des Individuums mit ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen ab. Ist die Menge an Ressourcen begrenzt, ist auch die Menge der möglichen Selbste begrenzt. Wird nun dasjenige mögliche Selbst, über das das Subjekt als einziges verfügt oder das vom Subjekt favorisiert wird, von seiner Umwelt in Frage gestellt, verbleibt im ersten Moment noch die Möglichkeit, sich auf dieses eine oder auf ein bestimmtes anderes, gerade noch verfügbares mögliches Selbst zu fixieren. Wird dieses mögliche Selbst, das unter Umständen einfach der bisherige Entwurf ist, dennoch nicht den Anforderungen der veränderten Umwelt gerecht, so bietet es dem Subjekt immerhin den Vorteil, sich durch die Fixierung auf dieses verfügbare Selbst stabilisieren zu können. Auch deshalb ist die Flucht „kleiner Leute“ in „kleine Welten“ eine erfolgreiche Strategie ressourcenschwacher Individuen.
Kommt es jedoch zur Stigmatisierung dieser kleinen Welten durch kulturelle Eliten, so ist dies nicht selten ein „Akt der Intoleranz“, der die „Freiheit der Mittellosen, sich als jemand anders zu erfinden“, ersticken kann. (siehe Kaufmann 2005, S.218ff) In diesem Moment hat das Individuum neben seinen noch verbleibenden Möglichkeiten des „Rückzugs in die schützende Unsichtbarkeit“, der „Flucht in gewöhnliche Leidenschaften“ oder des teils selbstzerstörerischen „Gebrauchs von Ersatzmitteln, die die Unzulänglichkeiten des Individuums künstlich beseitigten“ nur noch die Möglichkeit des emotionalen Ausbruchs.
Im harmloseren Fall kommt es dabei lediglich zur „Stigmaweitergabe“, dass heißt zu absteigenden Vergleichen mit immer noch schlechter gestellten Menschen (zum Beispiel in Form von Rassismus oder Mobbing) – also zur Fortsetzung des Mechanismus, der die strukturelle Knappheit von Anerkennung verursacht. Die dann weniger harmlose Variante des emotionalen Ausbruchs ist Gegnerschaft und Wut. Die Identifikation eines Gegners macht die emotionale Entladung „unvergleichlich viel stärker“, weil der Feind ein klares Ziel bietet und dem Leben wieder Sinn gibt – „auch wenn der Feind als Feind konstruiert werden muss.“ Und nicht nur das. Das Individuum wird ja überhaupt erst durch seine Gegenseite zum Ich. Wenn diese Gegenseite auch noch kollektiv ist, dann findet das Ich unmittelbar sein Wir. Das „Wir“ nimmt durch die Dynamik der Opposition und des Konflikts Gestalt an. (Kaufmann 2005, s.225) Kaufmann unterscheidet dabei noch zwischen (1) dem emotionalem Ausbruch als einem vorübergehenden Wiedergutmachungsbedürfnis, das all jene verspüren, die sich kurz aus ihrer Zurückgezogenenheit zurückmelden und ihren Rückstand in der Welt, die sich weiterbewegt hat, erkennen müssen und (2) der Wut beispielsweise der Jugendlichen, die keineswegs auf eine Identität reduziert sind, jedoch keines ihrer möglichen Selbste etablieren können. Damit begründet Kaufmann die Verbreitung von Drogen, das Phänomen des Amoklaufs und die von Jugendlichen geprägten sozialen Unruhen in den Vorstädten. Hier sieht Kaufmann auch Ursachen für den Erfolg von Populismus, Extremismus und Radikalismus. (siehe Kaufmann 2005, S,137,230ff u. 250f u.a.)
Angesichts des Energieaufwands, der Probleme und Risiken, die mit der freien Selbstbestimmung im Identitätsprozess verbunden sind, betrachtet Kaufmann die Übernahme von Rollen im Kontext der Institutionen als dritten möglichen Weg. Er wird vom überwiegenden Teil aller Individuen in der ein oder anderen Form beschritten. Um die Erschöpfung abzuwenden, die dem Individuum im Identitätsprozess droht, werden dabei die in der Gesellschaft vorhandenen Rollen, sozialen Rahmen und diversen Institutionen benutzt, um die eigene Identität zu definieren.
Kaufmann widerspricht hierbei der Annahme, es existiere eine weit verbreitete Ablehnung der Institutionen. Im Gegenteil erleben die Institutionen aus Kaufmanns Sicht gerade jetzt ihre Wiederbelebung, denn sie werden von den Individuen als „Identitätsnischen“ wiederbelebt. Die „Selbsterfindung durch imaginäre Entwürfe“ bleibt die Ausnahme, während es im Gegenteil „von dringlicher Bedeutung“ ist, „in der etablierten Menschheit eingebettet zu bleiben.“ Gerade das leistet die Rollenübernahme im Kontext von Institutionen. Eine Rollenübernahme kann dem Individuum dazu dienen, sich zu verändern, indem es das in dieser Rolle angelegte soziale Gedächtnis (in Diskrepanz zu seinen Gewohnheiten) verinnerlicht. (siehe Kaufmann 2005, S.273) Der Preis dafür, dazugehören zu dürfen, besteht in der Unterordnung der Identität unter die klassischen Sozialisationsrahmen in ihren traditionellen Formen. Als Beispiele solcher Formen nennt Kaufmann „richige Arbeit“, „richtige Familie“ und „richtige Wohnung“. Kaufmann spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Handel zwischen Individuen und Bürokratien“, der sich in allen Gesellschaftsschichten findet.
Der „Vertrag mit der Institution“ birgt für das Individuum den Gewinn die eigene Identität und Selbstachtung zu stabilisieren, fordert deshalb aber zugleich auch Loyalität. Denn bereits beim geringsten abweichenden Verhalten läuft das Individuum Gefahr, von der Institution ausgeschlossen zu werden und hierdurch der Rahmung und Stabilisierung beraubt zu werden, die es erst durch die Zugehörigkeit zur Institution gewonnen hat, wodurch es erneut der Destabilisierung und Ungewißheit einer auf sich selbst gestellten Sinnkonstruktion ausgeliefert würde. Den geringsten Spielraum haben dabei die Mittellosen und die Reichen, da sie ihre Identität jeweils am engsten mit den Institutionen verbinden (müssen). (siehe hierzu Kaufmann 2005, S.275-281) Denn die Verbindung mit einer Institution hängt davon ab, welchen Nutzen das Individuum von dieser Verbindung hat. Am stärksten ist dieser Nutzen für jene, die sich dem „Apparat der Sozialhilfe“ ausliefern müssen, wie für jene, deren Reichtum und gesellschaftliche Akzeptanz durch die Anlehnung an Institutionen und die Beleihung deren Autorität gesichert wird. So erklärt sich auch die relative Ungebundenheit der Mittelschicht. In der „so genannten Mittelschicht und vor allem in deren intellektuellem Teil, werden die Institutionen […] mehr und mehr zu einem gelegentlich benutztem Instrument.“ (Kaufmann 2005, S.277)
Der Preis einer engen Bindung an die Institutionen ist hoch, denn sie bedeutet für das Individuum, Einschränkungen der eigenen Freiheit und Kreativität des Selbstentwurfs hinnehmen zu müssen. Es stellt sich die Frage, wie man „ganz man selbst sein“ kann, „wenn die Institution täglich das Verhalten diktiert und dem Leben Sinn verleiht.“ Kaufmann veranschaulicht dies anhand der „herrschenden Schichten“, die stark in Institutionen integriert sind: Sie produzieren „streng konformistische Individuen […], die ihre Initiative nur innerhalb eines streng begrenzten Spielraumes entwickeln“ (siehe Kaufmann 2005, S.281f) Die Institutionen selbst befinden sich hierdurch in einem „perfekten Doublebind“. Sie verlangen einerseits von den Individuen Anpassung, sind jedoch zugleich auf Initiative und „richtige Persönlichkeiten“ angewiesen. Infolgedessen werden bei der Rekrutierung von Personal zum Beispiel Hobbys als Auswahlkriterien immer wichtiger. Waren Hobbys früher Auswege des Individuums, die es erlaubten, jenseits der Disziplin ihres institutionellen Seins Träume und Pläne auszuleben, werden Hobbys in den Lebensläufen immer mehr zur Pflicht und entscheidend. „Daher dieses Paradox: Die am meisten befriedigenden institutionellen Sozialisationen werden zu Fallen mit dem Anschein einer noch kreativeren Subjektivität.“ (Kaufmann 2005, S.283)
zuerst veröffentlicht 2009-09-06