In: Wierlacher, Alois (Hg.): Das Fremde und das Eigene: Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. München (Iudicium-Verlag) 1985, S.151-196 [Ablage Nr.1183]
[Exzerpt]
Der Herausgeber betont in einer Vorbemerkung zum Aufsatz, dass er ihn in der Hoffnung abdruckt, „dass uns der ebenso launige wie bedenkenswerte Vortrag zur näheren Erforschung und zur Tolerierung der kulturellen Unterschiede auch des wissenschaftlichen Redens und Schreibens anregt.“ Mit den Worten der Freien Universität zu Galtungs Ausführungen setzt er hinzu: „Kein Streit wird darüber aufkommen, dass […] Rücksichtnahme […] fremder Lebensgewohnheiten zu den Vorbedingungen gehört, das Nebeneinander von […] Menschen […] erträglich oder auch nur denkbar zu machen. Die Wissenschaftler […] tun gut daran, mit dieser Einsicht bei sich selber anzufangen.“ (151)
1. Über intellektuelle Stile im Allgemeinen
Intellektuelle verarbeiten Eindrücke zu Ausdrücken, wobei die „Freiheit, Eindrücke zu sammeln“ ebenso wichtig ist, wie die „Freiheit des Ausdrucks“. (152) Wir brauchen Eindrücke und „wir müssen fähig sein, sie als Teil unseres eigenen Vergnügens und unserer Selbstverwirklichung auszudrücken; und wir müssen fähig sein, […] in die Kreise der Intellektuellen einzudringen und […] zum Publikum vorzudringen, indem wir unsere intellektuellen Produkte lancieren und dabei nach Kritik suchen.“ (152)
Eindrücke und Ausdrucksmöglichkeiten sind konditioniert. Galtung verweist auf die „gegenwärtig dominierende Philosophie der Wahrheit“, was gleichgesetzt wird mit dem, „was innerhalb eines Kreises von akzeptablen Kollegen intersubjektiv akzeptabel ist.“ (152)
Galtung schlägt zur Diskussion intellektueller Stile eine ideal-typische Analyse im Sinne Max Webers vor (dazu 153), für die er eine Kartographie der Wissenschaft entwirft, in der er vier Welten mit ihren jeweiligen Zentren und den von ihnen beeinflussten Peripherien skizziert: Die sachsonische, die teutonische, die gallische und die nipponische Wissenschaft. (152f) [Ich vernachlässige in diesem Exzerpt die Auseinandersetzung mit dem nipponischen Typus]
Aus der ideal-typischen Analyse ergibt sich, dass die skizzierten Stile „nicht an bestimmte Gruppen in bestimmten Ländern gebunden“ sind (siehe 185). Vielmehr entscheide der Einfluss und die Kombination der jeweiligen Typen über den Charakter und das Potential der jeweils lokalen Wissenschaftskultur. (siehe hierzu 154)
Zur Untersuchung bestimmt Galtung die Dimensionen der intellektuellen Tätigkeit der Deskription und Erklärung. Intellektuelle beschreiben, „wie die Wirklichkeit beschaffen ist und versuchen, sie zu verstehen.“ (154) Er unterscheidet vier Dimensionen:
- Die Sammlung, Verarbeitung und Analyse von Daten
- Die Theoriebildung
- Die Paradigmen-Analyse im Sinne einer Betrachtung der standortbedingten Grundlagen, denen die eigene intellektuelle Tätigkeit unterworfen ist
- Die Erforschung dessen, was andere tun beziehungsweise deren Kommentierung
2. Sachsonischer, teutonischer und nipponischer Stil: Versuch einer Charakteristik
2.1 Unterschiede der Kommentierung untereinander
Galtung sieht seine idealtypischen Intellektuellen als Gruppen, die jeweils geschlossene Gesellschaften bilden, die sich selbst ihre eigene Wirklichkeit sind. Er beginnt seine Analyse mit der Untersuchung, wie sich diese Intellektuelle innerhalb ihrer jeweils geschlossenen Gesellschaften gegenseitig kommentieren.
Galtung behauptet, „dass der sachsonistische Stil die Debatte und den Diskurs begünstige und fördere“, weil in der sachsonischen Wissenschaft Pluralismus ein „übergreifender Wert“ ist und daher die Vorstellung existiert, dass „Intellektuelle ein Team bilden“, deren „Zusammengehörigkeit bewahrt bleiben muss.“ (157) Intellektuelle des sachsonischen Stils umschließen ihre Kritik daher bei der Kommentierung von Anderen mit einer einleitenden und einer ausleitenden Bejahung ihrer Arbeiten und ihres Vortrags. Der Konsens besteht darin, miteinander auf der Suche nach einem Ergebnis zu sein. „Es gilt, den andern aufzubauen, nicht, ihn fertigzumachen.“ (158) Demgegenüber stehen laut Galtung der teutonische und der gallische Stil. In den hier geführten Debatten ist die „Meinungsstreuung“ geringer, so dass „ man es mit weniger Widerspruch zu tun haben wird“ (158). Freundschaftsbekundungen unterbleiben. Die Diskutanten steuern unmittelbar auf den schwächsten Punkt einer Argumentation zu. [Dies könnte ein Grund dafür sein, dass man häufig den Eindruck hat, dass es nicht um die Würdigung des Erreichten geht, woraufhin die Diskussionen immerzu merkwürdige Themaverfehlungen sind und letztlich das Gefühl von Undankbarkeit und mangelnder Wertschätzung entsteht.] Die erwartbare Negation durch die Diskutanten erzieht den Vortragenden zur Vorsicht, eine vorgeschriebene Bahn zu verfolgen und den Autoritäten zu huldigen. Hier erkennt Galtung ein „Element der Unterwürfigkeit“ (159). Die vergleichsweise Unbekümmerheit der sachsonischen Intellektuellen habe indessen zur Folge, dass „Ideen nicht unbedingt richtig durchdacht sein müssen“, um dennoch auf verständnisvolle Ohren treffen zu können. (159)
Die Folge ist ein Unterschied im Umgang mit Meinungsverschiedenheiten. Während in den USA und im UK Meinungsunterschiede hinweggedeutet oder Übereinstimmungen gesucht werden, beharrt man im teutonischen und gallischen Stil auf der Existenz von Meinungsverschiedenheiten. Die geringere Meinungsstreuung in Debatten in der teutonischen und gallischen Wissenschaft führt Galtung darauf zurück, dass hier die Überbrückung von Distanz als Zeitverschwendung angesehen wird, während der sachsonischen Wissenschaft die Überbrückung von Distanz Vergnügen bereitet (161). Dies spiegele sich in der Welt der Fachzeitschriften wider: In der sachsonischen Wissenschaften seien die Journale „umfassende Angelegenheiten“, während sie im teutonischen und gallischen Raum zum Sektierertum neigten.
2.2 Unterschiede der Beschreibung und Erklärung der Wirklichkeit
Nach der Untersuchung der Unterschiede der gegenseitigen Kommentierung untersucht Galtung die Unterschiede bei der Beschreibung der Wirklichkeit.
Entscheidend ist für Galtung das Verhältnis von Daten und Theorie. „Alle Quellen gründlich erforscht zu haben, alle Daten zusammengestellt zu haben, ohne etwas zu verschleiern, ist das entscheidende Kriterium für Wissenschaftlichkeit.“ (161) Entscheidend ist dabei das Faktum, denn man kann für oder gegen eine Theorie sein, aber man kann nicht für oder wider ein Faktum sein. Galtung: „Daten verbinden, Theorien trennen“. (161) Und weiter: „Nur wenige Dinge tragen so sehr dazu bei, scharfe Trennungslinien zu erzeugen […], wie es Theorien im teutonischen und gallischen intellektuellen Ansatz vermögen.“ (161) Demgegenüber ist der sachsonische Stil gerade in der Theoriebildung und in der „bewussten Wahrnehmung der Paradigmen“ schwach. (162) Dies geht einher mit einem unterschiedlichen Verhältnis zur Datenlage. Während sachsonische Wissenschaften „Daten aller Art zu Tage fördern“, ohne „mitreißende Theorien und grandiose Perspektiven“ zu entwickeln (162), dienen Daten dem teutonischen und gallischen Intellektuellen eher zur Illustration und nicht als Beweis. Der teutonische und der gallische Intellektuelle suche nach einer „wirklicheren Wirklichkeit“, die frei ist „vom Lärm und den Unreinheiten der empirischen Wirklichkeit“. (163) Daher erscheint Galtung die us-amerikanische Wirtschaftswissenschaft als eine teutonische Ausnahme, da sie sich einer „potentiellen Wirklichkeit“ zuwendet, die eine „nicht sehr deutliche Beziehung zu der Wirklichkeit hat, wie die Menschen im allgemeinen sie kennen“. Auch die Auswahl der Daten geschehe so, „dass sie in diese Wirklichkeit passen“. (163)
Neben der spezifischen Rolle, die die Daten im jeweiligen intellektuellen Stil spielen, ist vor allem die Art und Weise der Theoriebildung entscheidend. Galtung behauptet, dass die teutonische Theoriebildung „rein deduktiver Natur“ ist und sich von der „grundlegenden Idee der Gedankennotwendigkeit“ leiten lässt: „Ziel ist es, von einer kleinen Zahl von Prämissen zu einer großen Zahl von Schlussfolgerungen zu gelangen.“ (163) Im Mittelpunkt steht die Implikation p > q, die annimmt, dass, wenn die Prämisse q wahr ist, auch die Implikation q wahr ist. Weil auch die Mathematik hierauf basiert, „kann möglicherweise die Mathematisierung dazu führen, den Intellektuellen in Richtung des teutonischen Stils zu beeinflussen.“ (163) Im Gegensatz zur logischen Konstruktion von Wahrheit können gesammelte Daten Hypothesen immer nur bis zu einem gewissen Punkt bestätigen. Sie können die Ambiguität [Mehrdeutigkeit] der Erfahrung jedoch nicht auflösen. „Nicht so bei der Implikationsbeziehung und damit also bei der Theoriebildung: hat man erst einmal die Prämisse akzeptiert, muss man auch die Schlussfolgerungen akzeptieren. […] Man wird zum Gefangenen der Prämissen und des deduktiven Rahmens, in den sie eingebettet sind.“ (164)
Galtung warnt an dieser Stelle vor dem Problem der deduktiven Theoriebildung: „Wir man […] von Vieldeutigkeiten angezogen, weil man entweder nicht der Gefangene seiner eigenen Gedanken sein möchte oder weil man das Universum selbst für vieldeutig hält, dann kann die deduktive Theoriebildung auf der Grundlage der aristotelischen Logik zu einer quälenden Last werden, und zu einer gefährlichen dazu. Sie steckt die Wirklichkeit in eine Zwangsjacke.“ (164)
Auf das Problem der Opposition einer Vorstellung von der Einheit der Welt einerseits und einer möglichen Vieldeutigkeit der Welt andererseits sind nach Galtung drei Reaktionen möglich.
Die erste Möglichkeit ist die der formalen Logik und der Mathematik, die sich dem „Vergnügen an der deduktiven Übung“ überlässt, „ohne […] anzunehmen, dass die Wahrheit der Thesen und Aussagen in der pyramidenförmigen Verknüpfung auch eine empirische Wahrheit sei.“ (164)
Die zweite Möglichkeit ist die des gallischen Stils, der nicht unbedingt auf die Deduktion angewiesen ist, sondern durch die Konnotation der gewählten Begriffe und durch die Eleganz der Sprache überzeugend sein kann. Statt der teutonischen Pyramidenkonstruktion, die auf Prämissen fußt und an ihrem Gipfel in einen Widerspruch mündet, den die Theorie zu überwinden versucht, hat der gallische Stil Galtung zufolge die Form einer Hängematte, die die die Opposition oder verschiedenen Deutungen nicht aufheben will, sondern sie auszubalancieren versucht.
Die dritte Möglichkeit ist die des nipponischen Stils, der kulturhistorisch auf Ambiguität und Vagheit angewiesen ist und daher „nur wenig oder überhaupt keine Theorie entwickelt“, nur lediglich etwas Theorieähnliches entwickelt und letztlich in die Mathematik ausweicht. (168f)
2.3 Gesellschaftliche und strukturelle Wechselwirkungen der jeweiligen Stile
Wissenschaftliche Stile, die mittels Strenge oder Eleganz um Theoriekonstruktion bemüht sind, stellen Galtung zufolge hohe Ansprüche an das sprachliche Vermögen, „das nur wenige meistern“. (166) „Die teutonischen und gallischen intellektuellen Diskurse sind ihrer Art nach darwinistische Kämpfe, in denen nur die Stärksten überleben, abgehärtet und befähigt, die Bedingungen des nächsten Kampfes zu diktieren. Die sachsonischen […] und die nipponischen Praktiken sind toleranter, demokratischer und weniger elitär.“ (166). Galtung sieht hier einen Zusammenhang mit einer breiten Massenerziehung im tertiären Bereich:
Weil Länder wie die USA oder Japan „Länder mit einer breiteren Massenerziehung sind“, müssen sie „mehr Menschen den Zugang zur Arena des intellektuellen Diskurses ermöglichen“. Umgekehrt können sie, weil sie mehr Menschen den Zugang ermöglichen, sachsonischen und nipponischen Stils] mehr Menschen den Zugang ermöglichen, können sie zu Ländern mit einer breiten Massenerziehung auch auf der Tertiärstufe werden.“ (166)
Galtung vermutet auch einen Zusammenhang zwischen der allgemeinen Gesellschaftsstruktur, der Struktur der wissenschaftlichen Gemeinschaft und dem wissenschaftlichen Produkt als einem Mix aus „Paradigmenanalyse / Thesenproduktion / Theoriebildung / Kommentar“ (169)
So korreliere der Respekt für den teutonischen Professor mit der Abstraktheit der „fundamentalen Prinzipien, mit denen er arbeitet; je niedriger er auf der Pyramide angesiedelt ist, desto niedriger ist auch das Niveau seiner Thesen, bis man unten bei den Studenten angelangt ist, die sich die Hände mit empirischen Daten beschmutzen.“ (169) Der Respekt kommt auch darin zum Ausdruck, dass man in Deutschland stolz darauf ist, sich als Anhänger eines bestimmten Meisters zu bezeichnen, wohingegen man sich in Frankreich eher als eine Gemeinschaft größtenteils unerkannter Meister begreift. (ebd.) Die Verbindung zur allgemeinen Gesellschaftsstruktur macht Galtung daran fest, dass die „gesellschaftliche Außenstruktur“ ein besonderes „Maß an Konkurrenzfähigkeit“ fordert, welches in „Individualität als grundlegender Charaktereigenschaft“ oder „autoritärer Unterwürfigkeit“ entsprechend der vertikalen Ordnung zum Ausdruck kommt. Auf Deutschland bezogen formuliert es Galtung so:
„In Deutschland wird Intersubjektivität innerhalb einer philosophischen Schule, innerhalb einer pyramidenförmig gestalteten Meister-Jünger-Beziehung erreicht. Im wesentlichen bedeutet das, dass die Jünger zum Verständnis des Meisters gelangen und in diesem Prozeß seine Theorie akzeptieren, ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen. Oder, falls jemand sie doch in Frage stellt, muss er die ganze Last des Beweises auf sich nehmen und sich selbst als Meister etablieren – über oder neben dem alten Meister: eine herkuleische Aufgabe. Intersubjektivität zwischen zwei Pyramiden ist nicht erwünscht; die theoretischen Konstruktionen sind unvergleichbar, und ihre Anhänger feiern ihre Unvergleichbarkeit, indem sie sich gegenseitig massiv bescheinigen, dass der andere nicht nur irre, sondern grundsätzlich irre.“ (170f) In Frankreich hingegen wird es schon deshalb nicht zum Austausch zwischen den Schulen kommen, weil jeder Meister seine eigene Sprache hat, so Galtung weiter. (siehe 171)
Alles in allem jedoch gibt es eine Intersubjektivität – und zwar auf der höheren Ebene des Bekenntnisses zum jeweiligen intellektuellen Stil. Der teutonische Professor wird in seinen Gutachten auf die Stringenz des begutachteten Gedankengangs achten, der gallische Professor auf die Muster des sprachlichen Verhaltens. Der sachsonische Professor wird hingegen vor dem Hintergrund des Gedankens der gegenseitigen Hilfe Nachsicht walten lassen und durch Wohlwollen die Möglichkeit erhalten, sich horizontal über alle Diskrepanzen hinweg verständigen zu können. Letztere Haltung ist im teutonischen und gallischen Stil Galtung zufolge undenkbar: Der teutonische Meister muss so tun, „als habe er nichts mehr zu lernen“; die gallischen Meister tun so, „als seien sie völlig irrelevant füreinander“. (172)
Galtung fasst an dieser Stelle die Stile zusammen, indem er die für sie typischen Fragen zur Untersuchung von Thesen (Behauptungen) formuliert:
Sachsonischer Stil: Wie kann man das operationalisieren? (US) Wie kann man das belegen? (UK)
Teutonischer Stil: Wie können Sie das zurückführen/ableiten?
Gallischer Stil: Kann man das in gutem Französisch sagen?
Nipponischer Stil: Wer ist Ihr Meister?
Entsprechend der unterschiedlichen Stile vermutet Galtung auch Unterschiede in der Ausrichtung des Erziehungswesens: Erziehungssysteme der Regionen sachsonischen und nipponischen Stils wären auf das Anhäufen von Fakten hin ausgerichtet deutsche Schulen auf das „Erlernen von Denkweisen“ und französische Schulen auf „die Beherrschung der französischen Sprache.
Besondere Beachtung schenkt Galtung dem teutonischen Stil. Denn er sei der einzige Stil mit einem klaren Zentrum und deutlichem Gipfel. Zudem gehe man im teutonischen Stil ein „ungeheures intellektuelles Risiko“ ein (175): „Sollte sich irgend etwas als ungültig erweisen, sollte eine These falsifiziert werden, sollte ein Satz, zu dem man wie auch immer gelangt sein mag, aus welchen Gründen auch immer sich als unhaltbar erweisen – so führt das in den andern drei Stilen zu keinerlei größeren Katastrophen. […] Der rein teutonische Intellektuelle […] trägt das Risiko, womöglich mit ansehen zu müssen, wie seine Pyramide in Stücke fällt. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass er seine Arbeit mit einer gewissen inneren Nervosität in Angriff nimmt, die sich in Muskelverspannung ausdrückt und einem Gesicht, aus dem die letzte Spur von Humor und Distanz gewichen ist. Keine Anekdote, keine Analogie, keine Euphonie und kein spielerisches Jonglieren mit Bedeutungen – nichts vermag das Desaster zu verschleiern, das eine teutonische Pyramide treffen kann; und stürzt sie ein, kann mit ihr der intellektuelle Einsatz eines ganzen Lebens verfallen.“ (176) Zudem glaube der teutonische Intellektuelle, „was er sagt […]. Der teutonische Intellektuelle könnte sogar zu einem Punkt kommen, an dem er glaubt, dass seine Pyramide tatsächlich ein gutes Modell der empirischen Wirklichkeit sei, und entsprechend handelt: so mag er glauben, dass, wenn man nur die entscheidende Wahrheit des Systems verändere, die empirischen Konsequenzen sich von selbst ergeben werden, auf die gleiche Weise, wie sich die logischen Konsequenzen aus seinen rigorosen logischen Deduktionen ergeben haben.“ (176) Daraus folgert Galtung eine Neigung des teutonischen Intellektuellen zum Extremismus – „je nach Sachlage auf der Linken oder der Rechten.“ (176)
Demgegenüber glaubt Galtung, dass der gallische Intellektuelle seine Modelle eher als Metapher begreift und sich ebenso wie der sachsonische Intellektuelle in „sehr harte empirische Arbeit stürzen“ wird. (176)
3. Vielfalt der intellektuellen Stile: Einige Bedingungen und Konsequenzen
Galtung weist darauf hin, dass die „intellektuelle Tätigkeit“ eine sprachliche Tätigkeit ist. Sprache unterscheidet sich von Land zu Land ebenso, wie sie sich innerhalb eines Landes zwischen der Elite und der breiten Masse unterscheidet. Daraus folgert Galtung auf den „Klassencharakter des intellektuellen Stils“, mit dem sich die Macht der Elite verbindet. Der jeweilige Stil verbreitet die ihm typische Fragestellung (siehe oben) in der breiten Bevölkerung, wobei insbesondere die Elite in der Sprache geübt ist, diese Frage gekonnt und überzeugend zu beantworten.
Neben der Beziehung zwischen Sprache und Macht vermutet Galtung eine Beziehung zwischen dem jeweils spezifischen Begriff der Wahrheit und der Macht. Aufwendig konstruierte und ebenso schwer zu de-konstruierende deduktive Systeme passten gut zur Wahrheit als einer feststehenden Sache, dialektische Formen der Wissenschaft bevorzugten eine Vorstellung der Wirklichkeit als einer im Fluß befindlichen Angelegenheit. Galtung behauptet nun, dass deduktive Konstruktionen von Herrschenden vorgezogen würden, weil ihnen „bestehende soziale Wahrheiten“ zusagten. „Die Beherrschten aber werden eine flexible Sicht bevorzugen, da nur diese ihnen Hoffnung auf die Zukunft geben kann.“ (178f) Galtung schließt daran die Frage an, inwiefern sich ein wissenschaftlicher Stil abhängig von der gesellschaftspolitischen Lage seines Kernlandes verändert. (siehe 179)
Aus der Betrachtung der wissenschaftlichen Stile als möglicher Kombinationen der drei Variablen „Vertikalität/Horizontalität, Kollektivismus/Individualismus, Polarisierung/Integration“ ersieht Galtung die Ausbreitung des teutonischen Stils im Großformat als eine mögliche weitere Gefahr. Solange der teutonische Stil vertikal und individualistisch, aber polarisiert sei, so verheiße dies einen Pluralismus konkurrierender Theorien. Würde die Polarisierung durch eine Einheitstheorie aufgehoben, die keiner Konkurrenz mehr ausgesetzt sei, so habe man es mit einem „Alptraum“ zu tun, der „der geheimen Methodologie der meisten Methodologie-Lehrbücher eingeschrieben“ sei: „Universalismus!“ (180f)
Hiernach stellt Galtung die Frage, „in welcher Beziehung diese verschiedenen Stile zum Verhältnis von Freiheit und Unterdrückung“ stehen und spekuliert hiernach über die besondere Rolle der nordischen Länder wie Norwegen, Schweden und Finnland. Dies seien Länder, die „weniger behindert durch imperiale Traditionen und innere Klassengegensätze, zumindest potentiell weniger repressiv sind und deshalb intellektuelle Stile entwickeln können, in denen ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Thesenproduktion und Theoriebildung besteht“, ohne zu versuchen, beides voneinander zu trennen. (181)
„Daten inspirieren Theorie, die Theorie inspiriert die Sammlung weiterer Daten, die wiederum ein Mehr an Theorie inspirieren – dieser spiralförmige Prozess wird dem Leser dargestellt, vor ihm entfaltet, so dass er ihn Schritt für Schritt selbst verfolgen, ihn kontrollieren und überprüfen kann.“
Dies steht für Galtung im Kontrast zu den theorielosen oder kopflastigen Analysen sachsonischer oder teutonischer sowie gallischer Provenienz.
„Nordische Autoren schreiben eine lesbare, journalistische Prosa.“ (182)
Zum Schluß fügt Galtung an, dass die auf Thesenproduktion ausgelegten wissenschaftlichen Stile zur Industrialisierung ihrer intellektuellen Produktion neigen und hiermit ein wirkungsvolles Herrschaftsinstrument geschaffen haben. „Ich denke dabei an das massive Sammeln von Daten durch große und finanziell gut ausgestattete Teams und an die Verarbeitung und Analyse dieser Daten durch eindrucksvolle, aber auch teure Computer – mit all den dazugehörigen Think tanks, Bibliotheken, Konferenzen und Sitzungen und dergleichen. […] Der sachsonische Intellektuelle wird vorwiegend dort in Erscheinung treten, wo Computer vordringen; die Produktionsmittel bestimmen weitgehend die Produktionsweise.“ (184)
Hingegen wird nach Auffassung Galtungs die teutonische Pyramidenkonstruktion und die französische Sprachkunst auch weiterhin ohne Computer auskommen und insofern als eine „Arbeit zu Hause im Wohnzimmer umgeben von Büchern“ stattfinden.
Zuerst veröffentlicht im alten Blog am 14.02.2008