Der folgende Versuch ist eine Vorüberlegung zur Diskussion der (digitalen) Infrastruktur und den Prozessidee(n) eines politischen Vereins. Ich stelle hier den roten Faden einer Diskussion zusammen, die sich im Verlauf der letzten ca. 12 Monate herauskristallisiert. Mich beschäftigt die Idee, dies sinnvoll zu verknüpfen mit einer ausführlichen Analyse des „Toolzoos“ der Partei Bündnis90 / die Grünen.1 Wenn ich mir überlege, wie absurd wenige Menschen in Parteien sind und wenn ich dann beobachte, wieviele Leute Karteileiche sind oder gar ausgetreten, dann frage ich mich: Ist es wirklich so schwer, einen politischen Verein zu erschaffen, der dauerhaft allen Freude macht, weil er kategorisch anders funktioniert, als diese stereotypen Organisationen?2
Benjamin Braatz empfiehlt, zwei der letzten Versuche, eine Partei zu gründen, die „kategorisch anders funktioniert“ – Piraten und AfD – als Warnung zu nehmen, dass es vielleicht doch nicht so einfach ist. Abzuwarten sei die weitere Entwicklung von Volt, „die noch nicht final gescheitert sind“. Braatz vermutet, dass Frustration in allen Parteien unvermeidbar ist angesichts der unterschiedlichen, oft konkurrierenden Interessen, die in ihnen aufeinander treffen.3
Während ich den Ansatz der Piraten für einen vielversprechend demokratisch gedachten Ansatz halte, den ich in der Sache für richtig halte, muss man sich mit Blick auf demokratie- und grundgesetzfeindliche Parteien bewußt machen, dass weite Teile des Wissens, auf das diese Leute bei der „Neuerfindung“ solcher Parteien zurück greifen, in textlicher Form von Autoren wie Lenin, Hitler und ähnlich zwielichtigen Gestalten bereits in recht ausführlicher Form dargestellt worden ist.
Da steht teils sehr dezidiert, wie man eine Kaderpartei aufbaut und wie politische Führung, die top-down führbar bleibt. Zur Stabilisierung der Führbarkeit gehört demnach immer eine gewisse Exklusivität, eine Konsistenz und „Unzerstrittenheit“, eine Unterscheidung zwischen loyalem Mitglied und bloßem Unterstützer sowie eine Aversion gegenüber der Vorstellung einer ergebnisoffenen Integration einer beliebig großen Anzahl gleichberechtigter Gesprächspartner*innen, wie sie meines Erachtens im Sinne einer gelingenden demokratischen Deliberation das Ziel sein muss. Solche Konzepte begegnen uns jetzt wieder, ohne dass Menschen deren Vorgeschichte zu kennen.4
Dejan Mihaljovic berichtet in der ersten Jahreshälfte 2025 über Wochen von der in Serbien sich entfaltenden Demokratiebewegung und schreibt hierzu unter anderem unter dem Hashtag #DemokratieVereint.5
Mihaljovic behauptet, dass das „Selbstverständnis von Politiker*innen und Parteien, ihre Rollen [und] wie sie funktionieren […] ein wesentlicher Teil eines grundlegenden Problems der Demokratiekrise“ sind. „Dass Wählen als einziges demokratisches Mittel seitens Politiker*innen und Parteien verstanden und kommuniziert wird, gehört zum Problem“, so Mihaljovic weiter. Der Verweis, du müsstest „nur einer Partei beitreten und sie ändern, wenn dir inhaltlich etwas fehlt, ist Bullshit. [sic!] Die Strukturen und Prozesse sind überholt und voller ungeschriebener Regeln, Intransparenz und Exklusivität, was enorme Ressourcen bindet und ein Resultat des Ringens um Macht ist. […] Das Problem ist, dass das in der Regel nur Menschen erfassen und verstehen können, die selbst in Parteien waren und das Toxische und Undemokratische erfahren haben und deshalb wieder ausgetreten sind. Ihre Einordnung wird aber als Verbitterung, Nachtreten oder fehlende Ausdauer (miss)verstanden. […] Von innen heraus wird bei Politiker*innen und Parteien kein Wandel eingeleitet werden, weil es sich selbst erhaltende (und sehr komplexe) Machtsysteme sind. […] Der zunehmende Abstand zu Bürger*innen und den gesamtgesellschaftlichen Problemen erschwert einen möglichen Druck von außen. […] Ein Ziel müsste es sein, Politiker*innen und Parteien zu haben, die sich als Bindeglied zwischen einer aktiven, starken Zivilgesellschaft und der formalen politischen Strukturen, Prozesse verstehen. Die kollaboratives Arbeiten, kollektives Wissen und diverse Perspektiven schätzen und einbinden.“6
Dieses Unbehagen mit dem aktuellen Zustand von Parteien findet sich auch an anderer Stelle. Benjamin Bratz erinnert die Diskussion „an die vielen Unzufriedenheiten, die ich in allen Parteien – SPD, Piraten und jetzt Grüne – mit der Infrastruktur zur politischen Willensbildung hatte. Interessanterweise war unter den absurd wenigen Menschen, die in Parteien sind dann meistens ein noch absurd kleinerer Anteil *wirklich* interessiert an der Entwicklung von Inhalten.“7
Die Aufforderung, Mitglied einer Partei werden zu sollen, fühlt sich angesichts dessen in etwa so an, als fordere man Leute auf, Teil des Teams eines erotischen Massagesalons zu werden oder gleich selbst einen zu eröffnen: Irgendwie eklig. Mag sein, dass es einigen Freude bereitet, man will da aber nicht mitmachen. Politische DIY-Gruppen, die nicht Partei sein wollen, verhalten sich insofern wie Massagesalons, in deren Schaufenster das kleine Schild „nur seriöse Anwendungen“ zu lesen steht.8
Mihaljovic passend dazu: „Keine Ahnung, wie man da hinkommen könnte, dass gesamtgesellschaftlich, gemeinsam an den dringend notwendigen neuen Ideen, Konzepten von Politiker*innen und Parteien gearbeitet werden würde.“9
Ich schlage deshalb genau zu diesem Problem passend vor, für die Analyse und den Neuentwurf erstmal soweit wie möglich alles wegzulassen, was irgendwie mit Wahlen zu tun hat, um eben für Wahlen als bloßem Sekundärprozess der Demokratie den für sie qualitativ notwendigen Boden zu bereiten, der gegen Desinformation, Manipulation und illibertäre Bestrebungen resilient ist.
Ich schlage vor, die Informations- und Deliberationsfunktion politischer Vereine in den Mittelpunkt zu stellen und ihre Prozessidee(n) und ihre dafür vorgehaltene Infrastruktur darauf hin zu untersuchen, wie sie für jede und jeden Einzelnen fruchtbar werden. Man muss dabei vor allem auch die Not- und Katastrophenfall-Situation10 von der harmlosen Alltagssituation in Friedenszeiten getrennt betrachten. Es macht keinen Sinn immer nur dann politisch tätig zu sein, wenn gerade Not und Katastrophe ist. Das schließt das „Geländespiel“ Wahlkampf ein. Das ist zu oktroiert, volatil und auf Dauer zu anstrengend.
Tägliche Teilhabe an politischer Arbeit sollte wie kochen mit Freunden sein, wie Federball spielen, wie ein Chat bei Mastodon.
Sowohl die Möglichkeit zu entscheiden, wie eine zutreffende Beschreibung eines Problems und seine umzusetzende Lösung aussieht, als auch die Rekrutierung von Personen, die solche kollektiv verbindlichen Entscheidungen als Repräsentanten und Delegierte treffen sollen, ist meines Erachtens ein Nebeneffekt der kollaborativen Informationsbeschaffung und -verarbeitung11, Rekrutierung und Wahlen Sekundärprozesse entlang der Wertkette politischer Arbeit. Das gilt auch für die Idee, die Entscheidungsfindung soweit wie möglich in den Prozess einer „flüssigen Demokratie“ einzuweben, wie dies im Konzept von liquid democracy angedacht ist, solange auch hier bloß die Delegation anders gelagert wird.
Leute in Gremien zu entsenden bzw. Entscheidungsbefugnis zu delegieren ist organisatorisch notwendig, aber ein im Alltag für jeden und jede Einzelne uninteressanter Vorgang. Im Gegenteil bin ich davon überzeugt, dass wir auch deshalb manipulierbar geworden sind, weil wir der Delegation und Repräsentation zu viel Bedeutung einräumen und dabei zu wenig ihren Nutzen und ihre Funktion für unsere jeweils individuelle politische Informationsarbeit hinterfragen. Dass uns Politiker so übertrieben bedeutsam erscheinen liegt nicht an der Natur des politischen Systems, an der Wertkette politischer Arbeit oder am Wert der Informations- und Entscheidungsleistung dieser Leute, sondern vorrangig daran, dass Personalisierung ein aufmerksamkeitsökonomisches Konzept ist, das insbesondere medienwirtschaftlich ausgenützt wird. 12
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, nach Anleitung und Werkzeug Ausschau zu halten, jeden Tag individuell, zu meinem Vergnügen und zu meinem Vorteil an der Wertkette politischer Arbeit teilhaben zu können, ohne dadurch täglich mit den emotionalen und mentalen Abgründen belastet zu sein, die eine aufmerksamkeitsökonomisch aufgepeitschte Medienwirtschaft oder ein in dieser Logik festgefahrenes Parteipersonal- und Wahlen-Theater mir Tag für Tag zumuten.
Ich vergleiche das gern mit Gartenliteratur: Ich finde im Buchladen viele Regalmeter Anleitungen, wie ich einen Garten anlege, wie ich bestimmte Pflanzen kultiviere usw. Ich finde dort aber keine Bücher, wie ich politisch arbeite, was es da konkret zu tun gibt, wie man vorgeht. Wenn ich in den Buchladen gehe, soll da ähnlich wie Gartenliteratur auch Politikliteratur stehen: Wie baue ich selbst: eine Gruppe in meinem Wirkungsbereich, gemeinsames Issue Monitoring, kollaboratives Stakeholder Management, wirksame politische Strategien und Aktionen, abgestimmt auf Ebene und Arena. Die Methoden und Techniken von Public Affairs existieren nicht im leeren Raum. Idealerweise finden sie im Rahmen einer pluralistischen und liberalen Demokratie Anwendung. In diesem Rahmen sind sie in den USA entstanden und beschrieben worden.13
Die Idee, das politische System in eine illiberale Demokratie zu verwandeln und dort die Arbeit mit den Methoden und Techniken von Public Affairs unter der „verbesserten“ Bedingung fortzusetzen, vom demokratischen Einfluss und der Durchgriffsmöglichkeit pluraler kollektiver Akteure entlastet zu sein, ist m.E. nicht nachhaltig hinsichtlich des sozialen Friedens, weil es die Fehlallokation von Ressourcen verschärft. Es ist auch nicht nachhaltig, weil illiberal durch Manipulation einseitig entstehende und mit Wahrscheinlichkeit dann auch der tatsächlichen Situation (aus erkenntnistheoretischen Gründen) nicht gerecht werdende kollektiv verbindliche Entscheidungen unweigerlich zu politischer Unwucht und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen führen.
Ich denke insofern, dass es im Sinne der pluralistischen, nachhaltig vielstimmigen und liberalen Demokratie unumgänglich ist, auf „Waffengleichheit“ der Stakeholder in den Arenen zu achten. Das heißt für mich, die historisch vorrangig von Partikularinteressenträgern verwendeten Methoden für Kollektivakteure verwendbar zu machen, d.h. im Endeffekt für jede einzelne Person alltagstaugliches Werkzeug zu stellen, um die Möglichkeit der Übervorteilung im politischen Prozess zu minimieren.
Den Status Quo des Siegeszugs der rechtslibertären, tendenziell faschistischen Manipulation der Massen halte ich für einen Effekt dieser Waffenungleichheit. Ich bringe es auf die Formel, dass die Mediendemokratie „gehackt“ worden ist (wie ein Computer). Die „Rechte“ hat verstanden, wie das geht und sie wird nun eine Weile damit Erfolg haben: „Twitter-X ist ein finanzielles Desaster, aber eine politische Macht-Maschine.“14
Das ist aber kein ahistorischer Zustand, sondern eine kukturelle Fehlleistung. Es wird nicht reichen, sich um Schadensbegrenzung zu bemühen, indem wir uns im Rahmen bestehender Strukturen der Öffentlichkeit im Sinne Habermas (GAMAM/TikTok/X; ÖRR, klassische Printmedien,…) mit aller Kraft gegen den Verfall liberaler Öffentlichkeit und gegen den erstarkenden Faschismus stemmen. Ich denke, ähnlich wie in den 1930ern und 1940er muss es darum gehen, das Handwerkszeug und die Infrastruktur eines robusten demokratischen „Danach“ zu entwickeln.
Wenn ich das Handwerkszeug weiter entwickeln möchte, liegt es nahe, eine Bestandsaufnahme zu machen, welche Werkzeuge mir aktuell bereits zur Verfügung stehen. Dies hat mich auf die Idee gebracht, mir den „Werkzeugkasten“ der Partei Bündnis 90/Die Grünen anzuschauen, deren Mitglied ich aktuell bin.15
1 https://chaos.social/@plinubius/114340539626327406, 28.04.2025
2 https://chaos.social/@plinubius/114327034564130031, 12.04.2025
4 Burmester und Holtmann beschreiben m.E. mit den besten Absichten, wie Parteien in fünf Stufen zu gründen wären Zusammenfassung siehe https://chaos.social/@plinubius/113022531674886217 bzw. Burmester, Hanno; Holtmann, Clemens: Liebeserklärung an eine Partei, die es nicht gibt. Warum wir Politik radikal neu denken müssen. Köln 2021, S.189ff.
@elala hat mich am 25.08.2024 darauf hingewiesen, dass eine solchermaßen beschriebene Vorgehensweise einen Vergleich lohne mit Adolf Hiltler: Mein Kampf, Kapitel 11 „Propaganda und Organisation“, siehe https://www.mein-kampf-edition.de/?page=band2%2Fp229.html
5 „Autokratische Kräfte sind maximal destruktiv und bemühen sich, eine Gesellschaft zu atomisieren, weil Empathie und Solidarität ihre größten Feinde sind bzw. ihnen am stärksten entgegenwirken. Den Großteil der Menschheit verbindet mehr als ihn trennt. Das möglichst vielen verständlich immer wieder aufzuzeigen, muss der Fokus demokratischer Kräfte sein.“ https://d-64.social/@dejan/114428025090934339, 30.04.2025
6 https://d-64.social/@dejan/114499452422319792 fortfolgende, 13.05.2025
8 https://chaos.social/@plinubius/114436661344707533, 02.05.2025
9 https://d-64.social/@dejan/114499452603295208, 13.05.2025
10 wie bei uns angesichts des Eintritts des Ernstfalls im Sinne des Grundgesetzes angesichts der Bedrohung durch die AfD in Deutschland oder bspw. angesichts der Proteste gegen das politische System in Serbien.
11 Siehe mein Essay zu einem Modell für gelingende politische Arbeit mit den zur Verfügung stehenden Mitteln eines Kreisverbands und hier das Kapitel 3: Rekrutierung als Nebeneffekt der Parteiarbeit. https://plinubius.de/essay-zu-einem-modell-fuer-gelingende-politische-arbeit-mit-den-zur-verfuegung-stehenden-mitteln-eines-kreisverbands/#__RefHeading___Toc153_461603462
12 Vgl. https://chaos.social/@plinubius/114327241399289386, 13.04.2025
13 https://chaos.social/@plinubius/114444795496164921, 03.05.2025
14 https://chaos.social/@plinubius/114464916685871659, mit Verweis auf Blume, Michael: Begriffsklärung Thymos, oligarchische Timokratie, KI-digitale Thymokratie, https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/begriffsklaerung-thymos-oligarchische-timokratie-ki-digitale-thymokratie/, 06.02.2025
15 https://chaos.social/@plinubius/114340539626327406, 28.04.2025
@elala @florian
Wir müssen das üben. Kompromisse schmieden sich nicht von selbst. Nur wer mal nachgibt und mal sich durchsetzen kann, wer die Bedürfnisse anderer wahrnimmt, erkennt den Wert und die Notwendigkeit des Ab-und-zu-gebens. Das, was @afelia mit Projekt Aula macht, ist aus meiner Sicht alternativlos. Wer Demokratie nicht übt, wie soll er sie dann verstehen? Im Job? Und wenn wir jetzt sehen, was AI aus Schule macht, dann ist es umso wichtiger.