Werte und kulturelles Wissen: zwei von vier Komponenten des Konzepts „politische Kultur“

Die hier wiedergegebene Arbeit ist für mich ein wichtiger Trittstein zwischen den erkenntnis- und politiktheoretischen Inhalten meiner Ausbildung einerseits und der Untersuchung und Beschreibung konkreter Fähigkeiten und Methoden politischen Handelns. Die erste Fassung ist im März 2004 in Leipzig entstanden. Mich interessiert Kultur vor allem als Vorrat an Wissen. Der Text macht greifbar, zu welchem (emanzipativen) Zweck und aus welchem Blickwinkel ich mich u.a. mit den Methoden und Techniken politischer Arbeit des Public Affairs Ansatzes sowie – als Anwendungsfeld – mit politischen Vereinen und Parteien als Sozialtechnik und als (digitale) politische Beteiligungs-Infrastruktur befasse.

Die Diskussion politischer Kultur fokussiert sehr stark auf Werte, Einstellungen und Sprache. Etwas polemisch formuliert denke ich:  Milieustudien (wie bspw. die des Sinusinstituts), manch eine Überlegung der Erkenntnistheorie im Nachgang des linguistic turn, in ihrem Gefolge die Diskursanalyse bzw. deren Rezeption und vor allem die (politische) Umfrageforschung – der Markt für all das findet sich dort, wo Zahlungsbereitschaft besteht, auf hohem Niveau mit wissenschaftlich fundierten Methoden Manipulation und Verführung zu betreiben, d.h. vorrangig in der (Wahl-)Werbeforschung, aber auch im Bereich der Konstruktion von Legitimation oder Deligitimation bspw. durch Spin-Doctoring oder den Entwurf von Kommunikationskampagnen.

Solche politische Kulturforschung beschreibt eine Wirklichkeit, die sie mittelbar dann selbst wieder hervorbringt und perpetuiert. Politische Kulturforschung kann aber noch etwas anderes, wie ich finde viel fruchtbringenderes sein: Die Suche nach dem Handwerkszeug, nach der Anleitung zum politischen Arbeiten oder zum politischen Handeln als handwerklich-methodischer Sache.

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Begriffe „politische Kultur“ und „Wert“
2.1 Der Begriff „politische Kultur“
2.2 Diskussion des Wertbegriffs
3. Zum theoretischen Konzept der Bestimmung des individuellen Handelns durch Wertmuster
3.1 Minimalistische Definition des Wertbegriffs nach Duncker
3.2 Einstellungen: objektbezogene Orientierungen
4. Die Veränderung der Politik als Entdeckungszusammenhang des Wertewandel
5. Determinanten der politischen Kultur
5.1 Soziologische Erklärungen des Wertewandels
5.1.1 Die wachsende Bedeutung postmaterialistischer Werte nach Inglehart
5.1.2 Mehrdimensionale Variabilität des Wertewandel nach Klages und Duncker
5.1.3 Selbstverwirklichung versus Tugendhaftigkeit
5.1.4 Synchronität von Desorientierung und Emanzipation
5.2 Die Entwicklung politischer Handlungsfähigkeit
6. Zusammenfassung
7. Schlussfolgerung
Literaturverzeichnis

 

1. Einleitung

Die nachfolgende Erörterung basiert auf einer Hausarbeit, die ich im Wintersemester 2003/2004 an der Universität Leipzig in einem Seminar bei Michael Hölscher am Institut für Kulturwissenschaft geschrieben habe. Sie ist eine ausführliche Erörterung und systematische Zusammenschau unterschiedlicher soziologischer, philosophischer und kulturwissenschaftlicher Zugänge zum Thema der politischen Kultur.

Das Bedürfnis, zu diesem Thema zu arbeiten, entstand bei mir in einem Hauptseminar der Politikwissenschaft mit dem Titel „Politische Kultur und Kommunikation“ im Sommersemester 2003, in dessen Verlauf der Aufsatz „Kosmopolitismus als Ideal und Ideologie“ von John Tomlinson und das dreibändige Werk „Das Informationszeitalter“ von Manuel Castells behandelt worden ist. Der rote Faden und wohl auch die Gemeinsamkeit beider Schriften kann man in der Veränderung der Sozialstruktur und der Art und Weise zwischenmenschlicher Kommunikation weltweit durch die neuen Möglichkeiten und Bedingungen globaler Wirtschafts- und Kommunikationsprozesse sehen, die tief in die Lebensgewohnheiten, sozialen Strukturen und in die Politik aller Staaten der Erde einzugreifen scheinen.

Die Auseinandersetzung mit dem Themenfeld, wie es umfassender kaum hätte eingegrenzt werden können, scheiterte nach meinem Empfinden jedoch in Ermangelung eines grundlegenden und verbindlich gebrauchten Konzepts, um „Kultur“ nach klaren Regeln beschreiben und mit Hilfe eines solchen Konzepts kulturelle wie auch politische Veränderungen adäquat und soziologisch fundiert diskutieren zu können. Was meines Erachtens vage bleiben muss, wenn man sich nicht ein begrifflich und konzeptionell ausgearbeitetes Modell zum Verständnis kultursoziologischer Prozesse verschafft, ist die Erörterung des Zusammenhangs zwischen beobachteten globalen Entwicklungen einerseits und ihre Wirkung auf Individuen und Gruppen, d.h. auf spezielle Soziologien.

Die Frage nach einem Konzept oder einer Theorie der „politischen Kultur“ stellt sich auch immer dann, wenn beantwortet werden muss, wie man politisch „ist“ und „politisch“ handelt. Genau dann nämlich begibt man sich auf die Suche nach den im jeweiligen Kulturkreis geteilten Vorstellungen, welche sozialen Verhaltensweisen, Rituale, Praktiken, Werkzeuge usw. es gibt, die jedermann bekannt sind und jedermann im jeweiligen Kulturkreis zur Teilnahme, also zu „politischer Partizipation“ befähigen. Eine Theorie der politischen Kultur, so meine Überlegung, müsste verständlich machen, was eine politische Kultur ausmacht und wie sie entsprechend identifiziert und entwickelt werden könnte.

Ziel dieser Arbeit ist deshalb nicht die Untersuchung einer speziellen politischen Kultur oder ihrer Veränderung, wie es für ganze Länder, als vergleichende Studien oder für spezielle Soziologien versucht worden ist. Eine solche Untersuchung bedingt die theoretische Grundlegung des Begriffs der politischen Kultur. Diese Grundlegung bleibt meines Erachtens aber meist diffus.

In dieser Arbeit habe ich mich deshalb vorrangig mit der Analyse der konzeptionellen Grundlegung des Begriffs der „politischen Kultur“ selbst beschäftigt. Dabei sollen diejenigen Parameter identifiziert werden, die bei der Analyse weiterführender Fragestellungen methodisch zu berücksichtigen sind.

Christian Fenner bestimmt die Minimaldefinition politischer Kultur innerhalb der Politikwissenschaft als die

„subjektiven Dimensionen der gesellschaftlichen Grundlagen politischer Systeme[…]. […] Ideen und Wertcodes, die politisches Handeln der Gesellschaftsmitglieder regulieren.“1

Seiner Ansicht nach lässt sich politische Kultur jedoch nicht auf die psychologische Dimension beschränken. Nicht nur, dass ungeklärt bliebe, wie Orientierungen das Handeln regulierten, wie es zu Orientierungen käme und wie sie sich veränderten. Vernachlässigt würde vor allem auch die Handlungs- und Interessenebene. Ebenso bliebe ungeklärt, welches Gewicht erworbene Verhaltensweisen, Mentalitäten und Wertvorstellungen haben.2 Auch Fenner bleibt meines Erachtens einen Hinweis auf eine grundlegende Kulturtheorie schuldig und belässt dabei, die Sinnhaftigkeit eines Methodenmix zu empfehlen. Immerhin aber gibt er einen Hinweis auf die Komponenten, die im einzelnen im Konzept politischer Kultur berücksichtigt werden müssen.

Nimmt man die Frage nach der Kulturtheorie ernst, so lässt sich feststellen, dass sich zwischen der Arbeit „Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions“ von A. Kroeber und Clyde Kluckhohn 1952 und Fenners Lexikonartikel 1998 nicht viel verändert hat. Schon Kroeber und Kluckhohn stellen in ihrer Schlussfolgerung fest:

„Perhaps a better way of putting the problem would be to say that as yet we have no full theory of culture. We have a fairly well-delinated concept. But a concept, even an important one, does not constitute a theory. […] The existence of a concept of culture apart form a general theory is with little doubt one factor which has influenced a few professional anthropologists toward shying away form the use of the concept.”3

Mit dem Begriff der Kultur allein, so Kroeber und Kluckhohn weiter, ist nichts anzufangen:

“total culture is a generalization like […] total life on earth; and it as such they cannot show the sharp patterning characteristic of particular phenomena.”4

Entsprechend ziehen auch sie den Schluss, sich auf die “explanatory and descriptive dimensions of culture” zu konzentrieren.5

Mein Aufsatz versteht sich deshalb als Erkundung des Konzepts der „politischen Kultur“ und um die Identifikation seiner Komponenten, die in weiteren Arbeiten beschrieben, systematisiert, analysiert und nicht zuletzt auch weiter entwickelt werden können.

Im ersten Teil erörtere ich zunächst den Begriff der „politischen Kultur“, seine Verwendung und Entwicklung in der Politikwissenschaft. Durch diese Begriffsanalyse lassen sich vier Komponenten beschreiben, die bei der Analyse politischer Kultur wiederkehrend beobachtet werden können und die Orientierung in allen weiteren Arbeiten bieten.

Die Meistdiskutierteste dieser Komponenten ist das Norm- und Wertsystem einer Gesellschaft. Diese Komponente politischer Kulturforschung wird von der Diskussion des Wertewandel beherrscht, der aus diesem Grund im Vordergrund dieser Erörerterung steht. Ich gehe deshalb hier an dieser Stelle einleitend auch auf die Diskussion des Wertbegriffs in der Philosophie und Sozialwissenschaft ein.

Im zweiten Teil beschränke ich meine Analyse des sozialwissenschaftlichen Wertbegriffs auf die Minimaldefinition von Christian Duncker, um den Begriff für die weitere Arbeit nutzbar zu machen. Dunckers Minimaldefinition der Werte konzentriert sich auf Werte als Vorstellung gesellschaftlich ertrebenswerter Zustände und kann deshalb auch zur Beschreibung politischer Wertvorstellungen genutzt werden.

Meine Festlegung auf Dunckers Konstrukt, das Werte und Einstellungen zueinander in Beziehung setzt, erlaubt es mir, in der Literatur begrifflich den Überblick zu behalten. Im dritten Teil dieser Erörterung ist das erstmals nützlich, weil ich dort anhand der Ausführungen Kai Hildebrandts, Russel Daltons und Ronald Inglehart die Bedeutung der Werte und ihres Wandels für die Veränderung der Politik skizziere.

Wie bereits von Fenner festgestellt, lässt sich politische Kultur nicht auf die subjektive und psychologische Dimension des „Wertewandels“ allein reduzieren. Dies wird sowohl durch die von Kaase und Schwelling identifizierten Komponenten politischer Kultur, als auch in den Ausführungen Ingleharts deutlich.

Entsprechend der Unterscheidung Ingleharts erörtere ich deshalb im vierten Teil erstens die Ebene der soziologisch erklärbaren Entwicklung des Wertewandels und erörtere zweitens die Ebene der Entwicklung der Fähigkeit, politisch zu wirken: Die vierte Komponente politischer Kultur.

2. Die Begriffe „politische Kultur“ und „Wert“

2.1 Der Begriff „politische Kultur“

Der Begriff der „politischen Kultur“ hat nach 1945 einen Aufschwung erlebt, als man sich auf die Suche nach Möglichkeiten der Erneuerung des staatsbürgerlichen Handelns gemacht hat. Politische Kultur wurde damals von Anfang an auch als eine Frage der Werte gedacht. Insbesondere die „implizit positive Bewertung der postmaterialistischen Werte durch Inglehart“6 Anfang der 70er Jahre ist für die politische Kulturforschung attraktiv (gewesen), weil gerade diese Werte die ersehnte Erneuerung des staatsbürgerlichen Handelns versprochen haben. Denn „die sozialen Träger der ‚neuen’ Werte favorisieren ökologische, politisch-partizipatorische und ästhetische Handlungsmaximen. Sie reklamieren größere Selbstentfaltungs- und Mitbestimmungsspielräume.“7

Als einer der prominentesten Ausgangspunkte der politischen Kulturforschung gilt die Arbeit „The Civic Culture“ von Almond und Verba. Vor dem Hintergrund der Totalitarismuserfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellen sie in den frühen 60er Jahren die Frage nach den kulturellen Bedingungen der Demokratie. Dabei unterscheiden sie zwei Komponenten der Kultur.

Die erste Komponente umfasst

„ways in which political elites make decisions, their norms and attitudes, as well as the norms and attitudes of the ordinary citizen, his relation to government and to his fellow citizens“8

Die zweite Komponente umfasst die historische Situation des jeweiligen Staates und den Grad der Entwicklung seiner bürokratischen und organisatorischen Sozialtechnik.

Komponenten politischer Kultur nach Auffassung Almond und Verbas

Schaubild 1: Komponenten politischer Kultur nach Auffassung Almond und Verba

Als ideal betrachten Almond und Verba dabei den Entwicklungstypus politischer Kultur, der weder traditionell noch modern ist, sondern sowohl alte als auch neue kulturelle Elemente integriert. In einer solchen „civic culture“ sollte es Almond und Verbas Vorstellung zufolge möglich sein, dass auch bis dahin nicht an politischen Prozessen beteiligte Gruppen, wie bspw. die Arbeiterklasse, am politischen Prozess teilnehmen könne. So sollte allen Gruppen die Möglichkeit gegeben sein, in einem „Trial and Error“-Prozess eine Sprache zu finden, die eigenen Interessen in den politischen Prozess einzubringen.9

Unter der Voraussetzung dieses Paradigmas haben die Autoren in einer vergleichenden Studie in den USA, Großbritannien, Deutschland, Italien und Mexiko  „politische Kultur“ untersucht. Dabei operationalisieren sie den Kulturbegriff, indem sie ihn als „psychological orientation toward social objects“10 auffassen.

„When we speak of the political culture of a society, we refer to the political system as internalized in the cognitions, feelings and evaluations of its population. […] The political culture of a nation is the particular distribution of patterns of orientation toward political objects among the members of the nation.”11

Almond und Verba zufolge gewinnen das Bewußtsein, die Gefühle und die Wertorientierungen genau dann eine politische Dimension, wenn sie sich auf das politische System als Ganzes, auf die ihm innewohnenden Teilhabemöglichkeiten, seine Ergebnisse und auf die eigene Rolle als politischem Subjekt beziehen.

Mit der Rezeption dieses Ansatzes sind in der Politikwissenschaft unterschiedliche Hoffnungen verbunden. Almond und Verba selbst unternehmen in ihrer Arbeit den Versuch, auf die Systemstabilität der jeweils untersuchten Länder zu schließen. Deshalb hat insbesondere die vergleichende Politikforschung ihren Ansatz aufgenommen. Denn Almond und Verba haben die Hoffnung genährt, man könne die Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen erkennen und somit zeitlose Verallgemeinerungen herleiten. Die Möglichkeit solcher makroanalytischer Betrachtungen großer und komplexer Sozialsysteme, wie es Länder nun einmal sind, kann man erkenntnistheoretisch anzweifeln. Max Kaase hat deshalb die Frage gestellt, ob man das Konzept der „politischen Kultur“ in der Politikwissenschaft nicht lieber aufgeben sollte.12 Kaase schlüsselt auf, welche Bestandteile bei der Betrachtung der „politischen Kultur“ berücksichtigt werden müssen, um den Begriff überhaupt sinnvoll verwenden zu können.

Die theoretischen Grundlegungen, wie sie von Almond, Verba und auch von Pye vorgenommen worden sind, sprechen allesamt von einem System oder auch von einem Set von Einstellungen, Werten, Gefühlen, Glauben und Bewusstsein, die eben erst in ihrer spezifischen Zusammensetzung oder Konfiguration eine spezifische politische Kultur ausmachen. Diese sehr abstrakte Vorstellung wurde von Autoren und Rezipienten durch Verweise auf Arbeiten Max Webers und Talcott Parsons ergänzt, die Wert- und Normensysteme als Bedingungen verstehen, die die Struktur und Kohärenz von Gesellschaft überhaupt erst ermöglichen. In den Hintergrund rückt dadurch die Vorstellung vom Vorrang des institionellen Arrangements als Kern jeder politischen Ordnung.13

Zur Vorstellung einer Konfiguration unterschiedlicher Kulturelemente kommt der Blick auf den Sozialisationsprozess hinzu, der auf jedes Individuum wirkt und dessen Betrachtung bei der Analyse der politischen Kultur unerlässlich ist – insbesondere im Hinblick auf die intergenerative Weitergabe von Kultur.

„Diese Prozesse sind vor allem unter […] der Annahme von Bedeutung, dass es sich bei […] Einstellungen um bedeutsame und […] relativ stabile Dispositionen handelt, die […] alle Teile der Bevölkerung oder […] klar abgrenzbare Teilgruppen besitzen. Zu untersuchen ist dann etwa, welche Sozialisationsinstanzen welche Beiträge zur dauerhaften Prägung politischer Einstellungsprofile leisten (z.B. langfristige Effekte von Massenmedien) und welche Verschiebungen beim Durchwandern des Lebenszyklus stattfinden.“14

Deshalb schlägt Kaase vor, politische Kultur vor allem als Prozessmodell zu verstehen. Mit einer gewissen Ähnlichkeit zu den zwei von Almond und Verba vorgeschlagenen Komponenten versteht Kaase politische Kultur erstens als „Zusammenspiel zwischen verfestigten, tradierten Wert- und Überzeugungssystemen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder und dem ständigen Angebot gesellschaftlich-politischer Deutungsmuster“, die durch Sinnproduzenten – wie Familie, Schule oder gesellschaftliche Eliten – erarbeitet werden.

Zweitens und analog zu der von Almond und Verba skizzierten zweiten Komponente (der historischen Situation und dem Stand der Sozialtechnik) kommt für Kaase die „institutionelle Ausgestaltung einer Gesellschaft“ als „Begrenzung und Steuerung der individuell verfügbaren Verhaltensalternativen“ hinzu15.

Konsequenterweise plädiert Kaase deshalb für eine Trennung zwischen der Wertebene und der Ebene der Handlungen und Institutionen. Er postuliert diese Trennung als Voraussetzung für die Analyse politischer Kultur.

Komponenten des politischen Kulturprozess nach Kaase

Schaubild 2: Komponenten des politischen Kulturprozess nach Kaase

Kaases „institutionelle Ausgestaltung einer Gesellschaft“ als „Begrenzung und Steuerung der individuell verfügbaren Verhaltensalternativen“ ähnelt meines Erachtens stark Birgit Schwellings Feststellung, dass „kulturelle Besonderheiten die Rahmenbedingen individueller Handlungsmöglichkeiten ab[stecken] und [diese] beeinflussen.“ Lässt man den Gedanken zu, dass es hier eine inhaltliche Parallele gibt, so lässt sich der hier von mir entfaltete Kulturbegriff um den Ansatz Schwellings bereichern.

Der Kulturbegriff, den Birgit Schwelling in ihrem Aufsatz „Politische Kulturforschung als kultureller Blick auf das Politische“ verwendet, bietet die Möglichkeit, den Begriff des Wissens einzuführen, der für die Erklärung individuellen und institutionellen Handelns von Bedeutung ist. Ein Vorteil des Wissensbegriffs besteht in der Möglichkeit, den geistig-künstlerischen Hochkulturbegriffs sinnvoll verwenden zu können, den Kaase aus der politischen Kulturforschung  ausgeklammert hat.16 So kann nämlich der Begriff der „political skills“, wie Inglehart ihn im Hinblick auf den Wandel politischer Partizipation verwendet, als Teil des Wissens verstanden und für weitere Analysen fruchtbar gemacht werden.

Schwelling steht in der Tradition des symbolischen Interaktionismus und dem damit lose verbundenen Strukturalismus. Kultur ist für sie ein „kollektives Phänomen“, das „nicht unabhängig von individuellen Akteuren besteht“, weil sie „durch ihr Handeln in der Interaktion mit anderen kulturelle Muster […] entstehen lassen und bestehende Formen aufnehmen, ablehnen, modifizieren oder in Vergessenheit geraten lassen. […] Insofern lassen sich kulturelle Muster als Wissenbestände verstehen, die in den individuellen Akteuren wirksam sind, aber auch als Phänomene, die über individuelle Akteure hinausreichen und in verdichteten und symbolischen Formen wahrnehmbar werden.“17

Überlagerung der Kulturkomponenten nach Almond, Verba und Kaase und dem kulturellen Wissen nach Schwelling

Schaubild 3: Überlagerung der Kulturkomponenten nach Almond, Verba und Kaase und dem kulturellen Wissen nach Schwelling

Kurz: Die Akteure formen in ihrer Interaktion Kultur aus den kulturellen Elementen, um die sie kollektiv wissen.

Schwelling geht dabei sogar soweit, dass auch die Wertesysteme letztlich auf diesen kulturellen Grundlagen gründen und entsprechend kontingent sind. „Auf der Basis der kulturellen Grundlagen bilden Individuen ihre Wertesysteme aus und bewältigen damit ihren Alltag; handeln und denken in Institutionen; verdichten Gesellschaften in offiziellen Symbolen das, was sie für richtig oder falsch empfinden.“18

2.2 Diskussion des Wertbegriffs

Dass die soziale Ordnung Orientierung bedingt und diese Orientierung in individuellen und kollektiven Sinnsetzungsprozessen stattfindet, diese Sinnsetzungsprozesse jedoch nicht idealtypisch auf eine ideale Gesellschaftsvorstellung hin entworfen werden, sondern lediglich soziologisch verstanden und nachvollzogen werden können, ist eine Denkweise, der eine lange philosophische und soziologische Diskussion des Wertbegriffs vorausgegangen ist und die in den soziologischen Modellen des symbolischen Interaktionismus und der systemtheoretischen Ansätzen gipfelt. Unter anderem bietet Oermann hierzu eine historische Orientierung19.

Nach Kant, so Oermann, könne durch die Erkenntnis des Seins der Welt keine Antwort auf die Frage nach dem Sollen gewonnen werden. Weil aber im Lauf des 19. Jahrhunderts die Naturwissenschaften zu dominieren begannen, „die ihren Naturbegriff für den allein gültigen erklärten und ihn daher auch für die Deutung des Menschen und seines Handelns beanspruchten“20, entstand aus der Perspektive der Philosophie die Gefahr einer völlig sinnentleerten, auf das Funktionieren von Gesetzen reduzierten Welt. Die Philosophie suchte demgegenüber nach einem Begriff, der eine Dimension der Wirklichkeit ausdrücken konnte, die in der Welt, wie sie die Naturwissenschaft messen kann, nicht darstellbar ist.21

Widersprochen wurde mit dieser Reaktion der Philosophie auf die Naturwissenschaften vor allem der Hoffnung auf die Möglichkeit, wahre Werte durch empirische Forschung herleiten zu können. Zwar bestand in der Philosophie ebenfalls der Wunsch nach einer transzendentalen Gründung der Werte, jedoch „war diese Suche nicht von Erfolg gekrönt“22.

Ein entscheidender Impuls, der der transzendentalen Begründungssuche der Werte entgegensteht, ist die Kritik Nietzsches, der die Werte für radikal kontingent erklärt. Die Annahme der Kontingenz der Werte wirft automatisch „die Frage nach der Norm auf. […] Im Begriff des Lebens meint Nietzsche den Schlüssel zur Bewertung der Werte zu haben. Die Aburteilung der überkommenen […] Moralvorstellungen wird letztlich gerechtfertigt durch ihren Widerspruch gegen das Leben. Wegen dessen normativem Charakter ist jeder damit kollidierende Wert verwerflich“.23

Kurz zusammengefasst, in erkennbarer Verwandtschaft zum Prinzip des kritischen Rationalismus:

Das Leben als Tatsache ist die Instanz, an der sich Werte als das regulative Instanz insbesondere sozialen Handelns messen lassen müssen.

Oermann folgert weiter, dass „die Entscheidung, welche Werte anerkannt und welche nicht anerkannt werden, […] sich nicht aus ihrem Charakter als Wert ableiten [lässt], sondern […] anderen Überlegungen und Kriterien“ entspringt, weshalb „die Arbeit mit Werten immer von einem Normendiskurs begleitet“ sein muss, „der einen Maßstab zum kritischen Umgang mit Werten bereitstellt.“24

Daraus folgt, dass Werte nicht mehr mit absolutem Geltungsanspruch behauptet werden können. Diese von Nietzsche provozierte Sichtweise führt einerseits zu einer Ablehnung der Überhöhung der Werte durch Wertphilosophien. Andererseits führt sie zu der von Max Weber eingeführten Handhabe der Werte:

„Für Weber sind die Werte ein Problem der einzelwissenschaftlichen Forschung, die zu erklären hat, wie sie entstanden sind und wie bzw. warum sich Menschen an sie binden.“25

Dieser Exkurs zur Wertdiskussion bietet eine Erklärung, warum in der politischen Kulturforschung gerade keine Wertphilosophie entwickelt wird, sondern die Untersuchung der gegebenen Wertorientierungen und die Untersuchung ihrer Kohärenz und Entstehungsmuster im Vordergrund des Interesses steht.

Aus der Perspektive der Soziologie ist die Bestimmung der Werte eine psychologische Aufgabe, die die Psychologie jedoch nicht vollständig lösen kann. Westmeyer stellt in seinem Aufsatz zu den „methodologischen Problemen der Wertforschung in der Psychologie“ fest, dass „jeder Forscher und jeder Autor […] meist seine eigene Definition [hat], wobei es sich in der Regel nicht um eine wirkliche Definition, […] sondern um ein In-Beziehung-Setzen von einem zu anderen nicht weniger unklaren Ausdrücken“ handelt.26 Schlussendlich läuft es Westmeyer zufolge darauf hinaus, dass „die Vorstellung, so etwas wie die Beziehung zwischen Einstellung und Wert, Interesse und Wert, Überzeugung und Wert könne entdeckt werden, […] ganz sicher irrig [ist]. Eine solche Beziehung kann nur – unter Beachtung der allerdings einen weiten Spielraum lassenden Verwendungsregeln unserer Umgangssprache – vom jeweiligen Theoretiker im Rahmen der Konstruktion einer psychologischen Theorie gesetzt werden.“27. Krieger, der sich vor dem Hintergrund der „Anklageschrift Westmeyers“ nicht als „Pflichtverteidiger“ der Wertkonzepte28 verstehen will, unterscheidet bei den psychologischen Theoriekonstruktionen drei unterschiedliche Auffassungen von Werten:

So könnten Werte Zielvorstellungen sein, die sich entweder erstens auf die eigene Person oder zweitens auf andere beziehen, oder es könnten drittens Zielvorstellungen sein, die sich auf gesellschaftsbezogene und soziopolitische Objekte beziehen. Mit dieser Dreiteilung sieht Krieger erstens Werte als individuelle Lebensziele bzw. –ideale, zweitens die oft in der Erziehung enthaltenen Vorstellungen von Sozialverhalten wie bspw. die als Tugenden bezeichneten Verhaltensmaßregeln und drittens soziale und politologische Wertvorstellungen erfasst.29

Aus der psychologischen Perspektive sieht Krieger wie bereits Westmeyer die semantische Abgrenzung der Vorstellung von Werten zwischen unterschiedlichen etablierten Konzepten als Hauptproblem an, auf das er mit einem eigenen Vorschlag zur Abgrenzung von Bedürfnissen, Normen und Werten reagiert. So wirkten Bedürfnisse einerseits und gesellschaftliche Normen andererseits auf das Individuum ein. Werte seien dabei „Ich-Leistungen, die im Spannungsfeld zwischen Bedürfnissen und Normen entwickelt werden“. Aus ihnen folgten dann Erwartungen und Überzeugungen, dass bestimmte Mittel, wie Tätigkeiten, Entscheidungen oder Institutionen, der Verwirklichung bestimmter Werte dienen oder hinderlich sein könnten. Daraus erkläre sich dann einerseits das Interesse an bestimmten Tätigkeiten, andererseits erkläre sich so die Einstellung gegenüber bestimmten Entscheidungen, Institution oder anderen sozialen Objekten.30

Abgrenzung der Bedürfnisse von Normen und Werten nach Krieger

Schaubild 4: Abgrenzung der Bedürfnisse von Normen und Werten nach Krieger

Krieger lierfert auch das Argument, um zur Betrachtung der „Werte“ im Rational-Choice-Ansatz bzw. in den sogenannten „Wert-Erwartungs-Modellen“ eine Brücke schlagen zu können. Dem Wert-Erwartungs-Modell zufolge ist „Wert“ eine Kombination des Bedürfnis mit den durch das Ziel gebotenen Anreizen. Dieser „Wert“ korreliert dann mit der Erwartung einer Handlungsfolgenabschätzung und bildet so eine „resultierende Handlungstendenz“.31

Werte im Rational-Choice- Ansatz bzw. im „Wert-Erwartung-Modell

Schaubild 5: Werte im Rational-Choice- Ansatz bzw. im „Wert-Erwartung-Modell

In diesem Modell kann ein Wert im Sinne einer kulturellen Variable im Bedürfnis enthalten sein, durch den das Bedürfnis – also die Stärke des Motivs – überhaupt erst erklärbar wird.

Auch wenn Westmeyer die Vorstellung, Werte mittels psychologischer Untersuchungsmethoden zu „entdecken“ für „irrig“ hält, so heißt dass nicht, dass es „Werte“ als Gesellschaft integrierende Instanzen nicht gibt. Denn Werte scheinen eine notwendige Kategorie, wenn es um die soziologische Fragestellung nach Strategien der Gruppenassimilation als originär soziologischem Aufgabenfeld geht, wie unter anderem in den Arbeiten von Karl Mannheim und Talcott Parson.32

Mannheim stellt auf der Suche nach einem Ersatz einer in der Moderne verloren gegangenen Sphäre der Übereinstimmung und Stetigkeit als einer der ersten auf die Funktionalität von Werten ab.

„Erst in Folge des Bedeutungsverlustes der Tradition für Verhaltensmuster und Institutionen, erst seitdem das automatische Funktionieren der Gesellscahft keine Anpassung mehr hervorbrachte“, muss Sozialwissenschaft Werte „als symbolische Integrationsformeln“ konzipieren.33

Parson zufolge, so Langenbeck, ist „letztlich […] die Struktur des Handelns identisch mit der Struktur des sozialen Systems, die wiederum nichts anderes als das Kultursystem, ein Gefüge von Werten, Symbolen und Verhaltensmustern meint“34. Die soziale Ordnung bedingt demzufolge die Orientierung an Werten, wobei „die Internalisierung kultureller Werte das Scharnier zwischen dem kulturellen und dem Persönlichkeitssystem“ bildet und die „Aufgabe der Wertmuster-Erhaltung und des Spannungs-Ausgleichs durch Ideologien, religiöse und weltanschauliche Deutungsmuster erfüllt“ wird.35 Nach Parson gewinnen Handlungen daher erst im Kontext eines Normensets Bedeutung. Wie auch für Krieger, so ist dabei auch für Parson ein Wert eine Symbiose zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Werten bzw. Normen.36 Ein Wandel der Werte ist demnach eine Quelle individueller Verwirrung und Irrationalität.

3. Zum theoretischen Konzept der Bestimmung des individuellen Handelns durch Wertmuster

3.1 Minimalistische Definition des Wertbegriffs nach Duncker

Eines der oben dargelegten Grundprobleme der Diskussion der „politischen Kultur“ ist die unklare Definition des Begriffs „Wert“ und die ebenso unscharfe Abgrenzung von Werten zu Normen und Einstellungen. Auf dieses Grundproblem reagiert Duncker ganz im Sinne Klages37, indem er eine Minimaldefinition des Wert- und Normbegriffs vorschlägt, die seiner Meinung nach in der Breite der wissenschaftlichen Arbeiten und Ansätze allgemein anerkannt wird. Die von Krieger ausgeführten Spielarten der Konzeption des Wertbegriffs in der psychologischen Forschung und der historische Abriss der Wertdiskussion machen verständlich, warum Duncker sich bei seiner Minimaldefinition ausdrücklich auf die Wertorientierungen der gesellschaftlichen Alltagskultur festlegt und gleichzeitig explizit sogenannte Lebensziele von seiner Definition ausschließt.

Laut Dunckers Minimaldefinition stellen „Werte diejenigen Zustände des gesellschaftlichen Lebens dar[…], die als erstrebenswert gelten. Normen hingegen sind Verhaltensweisen, die […] als verpflichtend gelten“38.

Der Zusatz, es handle sich um Vorstellungen, die als gesellschaftlich erstrebenswert gelten, ist dabei von besonderer Bedeutung, da seine Untersuchung sich „überwiegend mit dem Bereich der Alltagskultur beschäftigt“ und damit beabsichtigt, nicht enden wollende Differenzierungen der Abgrenzung bspw. „von Werten gegenüber […] sogenannten Lebenszielen“ zu vermeiden.39

Als Wertorientierung wird in diesem Konzept also verstanden, was in der Gesellschaft mehrheitlich als erstrebenswert erachtet wird und nicht, was im Rahmen einer philosophischen Betrachtung als Wertorientierung denkbar ist oder gewünscht wird.

Dunckers Entscheidung für einen Wertbegriff, der sich explizit als vorherrschende, mehrheitlich überwiegende Vorstellung eines gesellschaftlich erstrebenswerten Zustands versteht, leitet sich einerseits aus einer sozialpsychologischen Perspektive her, in der Werten, die innerhalb einer Gruppe von mehreren Individuen geteilt werden, eine „zentrale Funktion für das Miteinander von Menschen in der Gesellschaft“ zugeschrieben wird. Wertvorstellungen helfen dem Individuum, der notwendigen Konformität innerhalb der Gruppe durch Anpassung gerecht werden zu können, Erwartungen entwickeln und bewerten zu können und das eigene Handeln auf die Identität der Gruppe hin abzustimmen40

Andererseits kann Dunckers bemühen um eine Minimaldefinition des Wertbegriffs vor dem Hintergrund der philosophischen und teilweise erkenntnistheoretischen Debatte um den Begriff „Wert“ verstanden werden.

3.2 Einstellungen: objektbezogene Orientierungen

Mit der von Duncker eingeführten Ebene der Vorstellungen gesellschaftlich erstrebenswerter Zustände –  den Werten – sind die Normen in einem kritischen Diskurs verbunden. Mit Normen und Werten als allgemein handlungsleitenden Ge- oder Verboten sind nun drittens Einstellungen verbunden. Duncker konstatiert, dass einige Autoren davon ausgehen, „dass Einstellungen sich nicht eindeutig gegenüber Werthaltungen abgrenzen lassen.“41 Er verweist jedoch auf Rokeach42, der die These vertritt, dass sich Einstellungen von Werthaltungen abgrenzen lassen. „Nach diesem Ansatz sind Werte überschaubare Leitlinien des Verhaltens, wohingegen Einstellungen sich immer auf bestimmte Objekte beziehen. Derartige Einstellungen sind dabei aus übergeordneten Wertvorstellungen abgeleitet“43.

Schaubild 6: Werte und Einstellungen nach Dunckers Minimaldefinitionam Beispiel des Wertes „familiäre Geborgenheit“

Schaubild 6: Werte und Einstellungen nach Dunckers Minimaldefinition
am Beispiel des Wertes „familiäre Geborgenheit“

Ist nach Duncker bspw. „familiäre Geborgenheit“ ein Wert, so handelt es sich bei der Aussage „Für die Familie gebe ich einen Teil meines Wohlstands auf“ um eine Einstellung44, wobei der Wohlstand in diesem Fall das Objekt ist, auf das sich das Individuum orientiert.

Werte und Einstellungen stehen dabei in einer wechselseitigen Beziehung und können einander beeinflussen. Werte determinieren objektbezogene Einstellungen, denn sie stellen den Orientierungsrahmen für das individuelle objektbezogene Handeln dar. Zugleich aber kann reziprok eine bestimmte Konfiguration bestimmter Einstellungen „eine konkrete Werthaltung ergeben“45.

4. Die Veränderung der Politik als Entdeckungszusammenhang des Wertewandel

Die Erörterung des konzeptionellen Zusammenhangs zwischen Normen, Werten und Einstellungen erlaubt es, die zumeist nicht weiter erklärte Verwendung dieser Ausdrücke in Publikationen nutzbar zu machen; so z.B. in dem Aufsatz von Hildebrandt und Dalton zur „neuen Politik“.

Hildebrandt und Dalton konstatieren 1977 das Aufkommen einer „neuen“ Politik, die im Gegensatz zu der „alten“ Politik über althergebrachte ideologische Standpunkte hinausgeht46. Insbesondere die Studentenproteste der 60er und 70er Jahre in den USA und an deutschen Universitäten hätten den Wandel hin zu einer Politik verdeutlicht, die gesellschaftliche Aufgaben als neue politische Aufgaben thematisiert; so z.B. gesellschaftliche Aufgaben in den Bereichen der Bildung, der Lebensqualität, des Umweltschutz, der Schwangerschaft, des Scheidungsrechts, der innerbetrieblichen Mitbestimmung und ähnlichem.47

Diese Themen der „neuen Politik“ basieren dabei laut Hildebrandt und Dalton auf neueren Werten wie der „sozialen Sicherheit“ und des „Wohlstands“ und lösen damit die Werte alter Politik wie „Sicherheit, Einheit, Stärke und Ansehen“ ab.48

Der Wandel der Politik wird von den Autoren dann folglich im Sinne des oben dargelegten konzeptionellen Zusammenhangs von Werten und Einstellungen mit einer Veränderung der politischen Einstellungen erklärt, die durch politisch relevante Gruppen getragen werden. Wörtlich meinen die Autoren, „dass die die Alte Politik bestimmenden Dimensionen deswegen an Bedeutung für die Parteiendifferenzierung verlieren, weil die deutsche Gesellschaft sich strukturell und qualitativ in ihren dominierenden Werten verändert. Diese Veränderungen sind insofern politisch relevant, als sie neue politische Werteinstellungen mit sich bringen, die sich nicht mehr mit denen der Alten Politik decken.“49

Hildebrandt und Dalton argumentieren, dass sich dieser Wertewandel vor allem im Mittelstand als der politische relevanten Gruppe vollzieht, die durch ihr Wählerpotential die politische Agenda beeinflussen kann. Hierzu betrachten sie das Zahlenverhältnis von Mittelständlern und Arbeitern anteilig an den SPD-Wählern, wobei sie aufzeigen können, dass der Anteil der mittelständischen SPD-Wähler stetig gestiegen ist und, aus der Perspektive von 1977, auch weiter steigen könnte. Dies begründen die Autoren mit der Zusammensetzung des Mittelstands, der sich zu 80% aus Beamten und Angestellten zusammensetzt und der den Autoren als der eigentliche Träger des Wertewandels gilt.

Beamte und Angestellte, so Hildebrandt und Dalton, hätten in der traditionellen Einteilung der Gesellschaft in ökonomische Klassen keinen Platz: Ähnlich wie die Arbeiter hätten zwar auch sie keinen Anteil am Kapital, hätten aber „vom Lebensstil wie von den traditionellen Interessen her wenig mit dem Proletariat gemein“50. Der Einfluß des Wertewandels auf die Erneuerung der politischen Agenda durch diese neue Kategorie potentieller Wähler wird damit erklärt, dass man mit einer Umstrukturierung der Parteianhängerschaft erst dann rechnen könne, wenn zu den Inhalten „neuer Politik“, wie sie die neuen Werte forderten, glaubwürdige Positionen durch die Parteien vertreten würden. Die Konsequenz sei damit ein allmählicher Übergang von der alten zur neuen Politik. So könne es allmählich sogar soweit kommen, dass der alte Mittelstand und klassische Arbeiter den konservativen Pol bildeten, der sich um die Werte „Sicherheit, Einheit, Stärke und Ansehen“ kristallisiere, wenn die politische Auseinandersetzung durch die „neue Politik“ dominiert würde, die sich an den Werten „Wohlstand“ und „soziale Sicherheit“ orientiere. Ja, es könne sogar soweit kommen, dass mehr Angehörige der neuen Mittelschicht linke Parteien wählten, als Arbeiter.51

Diese Hypothese zu prüfen ist jedoch an dieser Stelle nicht geboten. Vielmehr zeigt es die Richtung auf, die der Forschungsdiskurs seit den 70er Jahren unter anderem genommen hat.

5. Determinanten der politischen Kultur

Die Thematisierung der neuen mittleren Schichten als der politisch relevanten Gruppe, die sowohl Träger des Wertewandel als auch Basis einer neuen Politik ist, geht konform mit den Thesen Ronald Ingleharts. So behaupten Hildebrandt und Dalton den Bedeutungsverlust der Klassenzugehörigkeit als der klassischen Determinante der Parteienpräferenz, indem sie auf die Veränderung des Bildungsgrads und die steigenden Einkommen hinweisen. Diese Variablen sehen sie jedoch nur als Möglichkeiten der Umschreibung des Phänomens des Werte- und Einstellungswandel an sich, zu dem der von ihnen zitierte Ronald Inglehart die Brücke schlägt.

„Inglehart erklärt diese […] politischen Entwicklungen mit seiner Theorie des Wertewandel in hochindustrialisierten westlichen Gesellschaften. Unter Bezug auf Maslow behauptet er, dass nach der Erfüllung der zentralen Anliegen der Alten Politik, Lebensunterhalt und Sicherheit zu gewährleisten, im Wertsystem der Öffentlichkeit ‚materialistische’ Werte allmählich von ‚post-materialistischen’ ersetzt werden“. Im Zuge dieses Wertewandels würden „Individuen […] vorrangig nicht-materielle Ziele, wie Selbstverwirklichung, Zugehörigkeitsgefühl, gesellschaftliche Teilnahme und Teilhabe, und die Aktualisierung ihres ästhetischen und intellektuellen Potentials anstreben. […] Solche Wertverschiebungen werden dann politisch relevant, wenn Einzelne und gesellschaftliche Gruppen politische Mittel anstreben, um ihre eigenen Ziele zu verwirklichen oder um die politische Agenda in Richtung auf diese Anliegen der Politik zu verändern.“52

Was Hildebrandt und Dalton hier hervorheben, sind zwei parallele, von Inglehart konstatierte Entwicklungen, die erst in ihrem Zusammenwirken eine Verbindung zwischen dem Wertewandel einerseits und der politischen Agenda andererseits herstellen können: zum einen die soziologisch zu erklärende Entwicklung des Wertewandel an sich; zum anderen die Entwicklung der Fähigkeit, politisch zu wirken.

Gerade aber mit der Thematisierung der Fähigkeit, politisch zu wirken, geht Inglehart über das von Duncker erörterte Modell des Zusammenhangs von Werten und Einstellungen hinaus und erweitert es um den Begriff der „skills“; zu Deutsch als um den Begriff des Geschicks, der Kunstfertigkeit, des Könnens, der Gewandtheit bzw. der Fach- und Sachkenntnis. Die „skills“ sind daher eine Dimension, die über den Wertewandel hinaus zu analysieren ist.

5.1 Soziologische Erklärungen des Wertewandels

5.1.1 Die wachsende Bedeutung postmaterialistischer Werte nach Inglehart

Inglehart bringt die Veränderung der Prioritäten grundlegender Werte mit dem Beginn einer post-industriellen Entwicklungsphase in Verbindung, in die die westlichen Gesellschaften eingetreten sind. „In short, people are safe and they have enough to eat. These two basic facts have far-reaching implications.”53 Diese Feststellung der einfachen Tatsache, das in den industrialisierten westlichen Gesellschaften heute Frieden und Wohlstand herrschen, setzt Inglehart mit der Motivationstheorie Abraham Maslows in Verbindung. Die Tatsache, dass die grundlegenden physiologischen Bedürfnisse der Sicherheit vor Tod durch Hunger- und Gewalt gestillt sind, führt Ingleharts Hypothese zufolge dazu, dass die nächsthöhere Stufe der Bedürfnisse Priorität gewinnt. „Once an individual has attained physical and economic security he may begin to pursue other, nonmaterial goals. […] When at least minimal economic and physical security are present, the needs for love, belonging, and esteem become increasingly important; and later, a set of goals related to intellectual and aesthetic satisfaction looms large.”54 Daraus folgert Inglehart, dass es zu einer post-materialistischen Wertorientierung im Sinne von Bedürfnissen kommen muss, die nach Maslow zu einer entsprechend höheren Bedürfnisebene gehören. Dies untersucht Inglehart mit einem im Grunde einfachen Index bestehend aus vier Einstellungen, die er als Items bestimmter Wertorientierungen ansieht. Diesen Ansatz differenziert Inglehart in seinen folgenden Untersuchungen lediglich hinsichtlich der genaueren Spezifikation der Items und Kohorten, behält ihn aber über Jahrzehnte hinweg im Sinne der Vergleichbarkeit von Daten unterschiedlicher Untersuchungszeitpunkte im Wesentlichen bei55. So ist der „ursprüngliche Fragenkatalog, der mit vier Items die materialistischen/postmaterialistischen Wertvorstellungen erschloß, […] zwischen 1970 und 1988 wiederholt repräsentativen nationalen Stichproben in Großbritannien, Frankreich, der Bundesrepublik, Italien, Belgien und den Niederlanden vorgelegt worden.“56.

In seinen ersten Untersuchungen 1970 bis 1971 unterscheidet Inglehart zwischen Einstellungen, die aus materialistischen Wertorientierungen resultieren, wie der gegenüber der nationalen Einheit und der Preisstabilität; und Einstellungen, die aus postmaterialistischen Wertorientierungen resultieren, wie der gegenüber der individuellen Wertschätzung politischer Partizipation und der individuellen Freiheit; insbesondere der Freiheit der Rede.57

Dabei wird in den Ergebnissen ein deutlicher Unterschied der Kohorten sichtbar, der Ingleharts Hypothese zur Veränderung der Wertorientierungen vor dem Hintergrund der sich verändernden ökonomischen und friedenspolitischen Rahmenbedingung stützt und die Annahme nahe legt, dass vor allem die spezifische Sozialisationserfahrung der jeweiligen Generation für vorherrschende Wertorientierungen der jeweiligen Kohorte ausschlaggebend ist. Inglehart ist sich jedoch bewusst, dass die Frage, ob es sich bei diesem Generationenunterschied um eine Frage lebensalterspezifischer Reife oder um einen tatsächlich intergenerativen, sozialisationsbedingten und damit bleibenden Unterschied von Werhaltungen handelt, nicht ohne weiteres beantwortbar ist. „The only way to be absolutely certain that long-term value change is taking place would be to measure a population’s values, wait ten or twenty years and then measure them again.“58 Die darin implizit formulierte Aufgabe, Jahre später die Untersuchung zu wiederholen um Lebenszykluseffekte auszuschließen, hat Inglehart umgesetzt. Auch in seinen späteren Arbeiten bleibt er bei seiner ursprünglichen Hypothese, dass es die grundlegende Sozialisationserfahrung und weniger der Effekt des Älterwerdens ist, der diesen generationsspezifischen Unterschied der Wertorientierungen herbeiführt.

Während man die einleuchtende Hypothese formulieren könnte, dass junge Menschen „mit fortschreitendem Alter […] zwangsläufig ebenso materialistisch [werden] wie die Älteren“59, so aber „deutet nichts darauf hin, dass die Kohorten mit zunehmendem Alter materialistischer werden. […] Am Ende des 18jährigen Untersuchungszeitraums waren praktisch alle Kohorten ebenso postmaterialistisch eingestellt wie im Jahr 1970. […] Wenn die Periodeneffekte konstant gehalten werden, gibt es keinerlei Anzeichen für eine allmähliche Hinwendung zum Materialismus, wie sie Theoretiker erwarten, die Auswirkungen des Lebenszyklus betonen.“60

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie Frieden und Wohlstand allein bieten Inglehart jedoch noch keine Möglichkeit eine Erklärung zu entwickeln, wie es zu Unterschieden der Wertorientierung innerhalb jeweiliger Kohorten kommt. Hierzu zieht Inglehart Faktoren wie Bildungsniveau, soziale Herkunft, Bildungsstand und Einkommen des Vaters als zentrale Einflussfaktoren zu Rate. Der Bildungsgrad ist nicht nur ein leistungsfähiger Indikator, wenn es um die Bestimmung des Wohlstands der jeweiligen Herkunftsfamilie geht. Bildung an sich beinhaltet auch immer einen Zuwachs kognitiver Fähigkeiten; eine wachsende Heterogenität der Orientierungen der gebildeten Person, die durch unterschiedliche Kommunikationsformen, wie den Umgang mit unterschiedlichen Menschen und anderen Informationsquellen, erzeugt wird und gegebenenfalls auch einen Anteil gezielter erzieherischer Indoktrination post-materieller Wertorientierungen durch die Schule selbst erfährt.61

Weil aber der Bildungsgrad und Variablen des kommunikativen Umfelds Inglehart an Erklärungskraft nicht ausreichen, untersucht er zudem die Bedeutung der „formative experiences“; der prägenden Sozialisationserfahrung im Jugendalter. Diese lässt sich seiner Meinung nach vor allem durch den sozio-ökonomischen Status des Vaters deuten.62 Dennoch behält der Bildungsgrad die grösste Aussagekraft, da hier der sozio-ökonomische Hintergrund in der prägenden Sozialisationserfahrung und die ökonomische Ist-Situation des Probanden sowie die den Probanden auszeichnenden kognitiven und kommunikativen Faktoren zusammenfallen.63

Den Bildungsgrad, so kann man im Hinblick auf Dunckers Kritik anmerken, sollte man jedoch nicht gänzlich unkritisch als Determinante betrachten. Denn die ökonomische Ist-Situation – oder auch nur die Interpretation dieser ökonomischen Ist-Situation gemessen an der individuellen Soll-Vorstellung – ist eine bemerkenswerte, unabhängige Variable in dieser Betrachtung; bemerkenswert, weil hier unter Umständen ein Potential liegt, das Phänomen eines neuerlichen Wertewandels weg von einem ursprünglich postmaterialistischen hin zu einer eher materialistischen Position zu erklären – trotz des natürlich unverändert hohen Bildungsgrades oder der unhintergehbar prägenden „formative experiences“.

Auch Inglehart betrachtet interessanterweise den Bildungsgrad als Indikator kritisch, indem er die Verteilung von Wertorientierungen innerhalb von Gruppen gleichen Bildungsgrades untersucht. „As it clearly indicates, value type is not just a reflection of one’s educational level”64, stellt auch Inglehart fest, der damit die Bedeutung der “formative experiences” gegenüber dem Bildungsgrad in den Vordergrund rückt, um so auch den – zwar in schwächerem Maße konstatierbaren – Vormarsch post-materialistischer Einstellungen bei Nichtakademikern erklären zu können. Zudem konstatiert Inglehart, dass die Zahl post-materialistisch eingestellter Menschen gegenüber materialistischer orientierter Menschen 1977 zugegebenermaßen noch sehr gering ist.65

Hildebrandt und Dalton stellen sich vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrisen der 70er Jahre daher in ihrem Aufsatz die Frage, ob die neue Politik auch in schwierigen Zeiten überhaupt bestand haben wird oder ob es sich lediglich um eine Schönwetterpolitik handelt, die mit schlechter werdenden ökonomischen Rahmenbedingungen wieder verschwindet. Dabei entwickeln sie zwei Thesen, die unterschiedliche Argumentationen zulassen. In ihrer ersten These vollziehen sie Ingleharts Argumentation nach, der zufolge „der Sozialisationsprozeß für die gegenwärtigen Wertprioritäten wichtiger ist als die gegenwärtige individuelle oder gesellschaftliche Situation“66, weil sich unter anderem statistisch nachweisen ließe, dass es einen entsprechenden statistischen Unterschied zwischen der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration gibt. Mit dem Argument der Dominanz der Sozialisation begründen die Autoren, warum die neue Politik thematisch auch die Zeiten wirtschaftlicher und politischer Krisen überdauern wird. Jedoch gestehen sie ein, dass die Rezessionserfahrung der 70er Jahre den Wechsel hin zu einer neuen Politik verlangsamt hat.

Ihre zweite These jedoch erlaubt es, die Behauptung der Dominanz der prägenden Sozialisationserfahrung im Jugendalter in Frage zu stellen, wie sie von Inglehart behauptet, von Duncker jedoch bezweifelt wird. Denn Hildebrandt und Dalton geben zu, dass die neue Politik vor allem auch aufgrund der ihr zugrundeliegenden, schichtspezifischen Verteilung der entsprechenden politischen Einstellungen überdauern würde. So überdauerten Vorstellungen neuer Politik vor allem in geschützten Bereichen, die von Krisen weniger berührt würden; und zwar in eben jenem neuen Mittelstand der Angestellten und Beamten, der von den unmittelbaren Folgen der Wirtschaftskrisen der 70er Jahre weniger betroffen gewesen sind. „Obwohl über die Nichteinstellung ausgebildeter Lehrer in den Medien ausführlich berichtet wurde, waren Arbeiter, besonders ungelernte, sehr viel häufiger von Entlassungen, Einstellungsstopps und Kurzarbeit betroffen als Angestellte oder gar Beamte.“67

5.1.2 Mehrdimensionale Variabilität des Wertewandel nach Klages und Duncker

Die grundlegende Kritik Dunckers an Ingleharts Modell ist, dass die Unterscheidung zwischen einer materialistischen und einer post-materialistischen Einstellung zu eindimensional ist, um den Wandel in seiner Komplexität ausreichend zu erklären. Analog zu Hildebrandts und Daltons Feststellung, dass die Spannungen zwischen neuer und alter Politik beständig wären68 weist Duncker gemäß Klein darauf hin, dass 50 bis 60% der nach Ingleharts Index bewerteten Fälle „sogenannte Mischtypen darstellen und somit bei diesem Ansatz gar nicht erst berücksichtigt werden.“69

Klein legt abgesehen von anderen Kritiken an Ingleharts Index, wie der Fragwürdigkeit seiner Validität, vor allem Wert auf die Frage nach den von Inglehart ausgeschlossenen Lebenszykluseffekten. Mit dem Lebenszyklus, einem etwas älterem Begriff der Soziologie, ist der Lebenslauf und die in ihm altersabhängig durchschrittenen Lebensabschnitte gemeint, die jeweils andere Erfahrungswerte und dementsprechend unterschiedlichen Einfluß auf Wertorientierung und Verhaltensweise des Individuums haben. So thematisiert Duncker den Lebenszykluseffekt, weil „beispielsweise Jugendliche und junge Erwachsene zunächst eine ausgeprägte Freiheits- und Unabhängigkeitsorientierung auf[weisen], die jedoch überwiegend im Verlauf des Lebens durch familiale Werthaltungen abgelöst wird.“70

Die Frage nach den Lebenszykluseffekten wiederholt zu stellen ist vor dem Hintergrund der „dramatischen Trendwende“ Ende der achtziger Jahre interessant, da vor allem die Wende 1989 die Linerarität des Wandels zwischen Materialismus hin zu Postmaterialismus zu unterbrechen scheint. Vor diesem Hintergrund findet es Klein angebracht, anders als Inglehart die „Mischtypen“ nicht unberücksichtigt zu lassen, sondern ein Erklärungsmodell für diese Mischtypen finden zu wollen.71

Ein alternatives Modell zur Erklärung des Wertewandel muss für Duncker auch erklären, wie sich Wertorientierungen verhalten, wenn Zustände eintreten, die die Befriedigung physiologischer Grundbedürfnisse in Frage stellen. Denn wer hungert, dem wird ganz im Sinne des maslowschen Modells Essen wichtiger sein als Selbstverwirklichung.

Ein Teil des Lebenszyklus kann also die Erfahrung von Knappheit zu einem weit späteren Zeitpunkt als dem der Inglehart so bedeutungsvoll scheinenden Phase der „formative experiences“ beinhalten, wie beispielsweise die sich verändernden Lebensbedingungen bei der Familiengründung oder sich verändernde wirtschaftliche Rahmenbedingungen, wie sie mit der Wende 1989 teilweise eingetreten sind. Anders ausgedrückt: Ingleharts „Postulat stabiler Wertprioritäten steht im Widerspruch zu der sich aus Maslows Ansatz ergebenden Anpassungsthese.“72

Schaubild 7: Wertgruppenordnung nach Klages

Schaubild 7: Wertgruppenordnung nach Klages

Orientiert an der Wertgruppenordnung von Klages 73 , die einen mehrdimensionalen Wandel annimmt, der sich zwischen Individuum und Gesellschaft sowie Normen und Werten aufspannt, entwirft Duncker ein eigenes Modell, dass

      1. eine Abnahme von Werten der Selbstentfaltung bei einer gleichzeitigen Zunahme von Wertvorstellungen der Pflicht als Wertkonservatismus versteht;
      2. eine Abnahme der Pflichtwerte bei einer Zunahme der Selbstentfaltungswerte als einen Wertumsturz versteht;
      3. die kongruente Zunahme von Selbstentfaltungs- und Pflichtwerten als eine Synthese versteht und
      4. eine Abnahme sowohl von Selbstentfaltungs- als auch von Pflichtgefühlen als einen Werteverlust versteht.74
Schaubild 8: mehrdimensionales Wertwandelmodell nach Dunckerin Anlehnung an Klages Wertgruppenordnung

Schaubild 8: mehrdimensionales Wertwandelmodell nach Duncker
in Anlehnung an Klages Wertgruppenordnung

5.1.3 Selbstverwirklichung versus Tugendhaftigkeit

Duncker unterlässt bedauerlicherweise eine explizite Integration Ingleharts Index in dieses alternative Modell des Wertewandels, das an Klages Theorie angelehnt ist. Warum dies unterlassen wird, erklärt sich unter Umständen aus der Parallelität der Ansätze des hier kritisierten Inglehart und des von Duncker favorisierten Klages. Jedoch sind diese Ansätze nicht unähnlich.

Inglehart vermischt die scheinbare Rangordnung von Wertorientierungen, die sich aus dem maslowschen Motivationstheoriemodell zu ergeben scheint, mit der spezifischen Sozialisationserfahrung eines Menschen, um aus der Schnittmenge der Annahme einer prägenden Sozialisationsphase mit dem Motivationstheoriemodell eine spezifische, lebenslange Grundwertorientierung herzuleiten. Daraus entspringt ein sehr attraktiver Determinismus, den gedanklich nachzuvollziehen verlockend ist: Wohlstand und Frieden brächten die Menschen zu den wirklich wichtigen Themen der Selbstverwirklichung.

Klages teilt zwar die Auffassung von der Bedeutung der Sozialisation, unterlässt es jedoch, sie an eine Dramaturgie eines scheinbar hierarchischen Modells wie dem der maslowschen Bedürfnispyramide zu koppeln und damit ein verführerisch einfaches, weil monokausales Modell vorzustellen. Dafür nimmt Klages eine differenziertere Betrachtung der kulturhistorischen Entwicklung der Wertorientierungen vor, in der wie bei Inglehart die Industrialisierung eine Rolle spielt. Im Laufe dieser Entwicklung ist es laut Klages im Zuge der Industrialisierung zu einem Verlust geschlossener gesamtgesellschaftlicher Wertsysteme gekommen, die eine „Sinndeutung der individuellen Existenz wie auch eine Festlegung und Rechtfertigung der sozialen Wirklichkeit und der Stellung des Einzelnen“75 ermöglicht haben. An die Stelle solcher gesamtgesellschaftlich geschlossener Wertsysteme ist ein Wertpluralismus getreten, in dem es in die Sphäre der Persönlichkeit fällt, mit welcher Wertordnung es sozialisiert wird. Der Wertewandel findet dabei nach Klages im Kern durch eine Abwertung traditioneller Tugenden statt.76

Aus Klages Definition des Wertbegriffs in Abgrenzung zum Bedürfnisbegriff wird dabei Klages Argumentation nachvollziehbar. So stellen laut Klages – analog zu der oben eingeführten Definition Dunckers – Werte innere Dispositionen dar, die allerdings nur dann handlungsrelevant werden, wenn sie in einer Situation als situationsbezogen relevant assoziiert und folglich aktualisiert werden. Bedürfnisse sind in diesem Zusammenhang Wertorientierungen, die auf der Ebene des Handelns aktualisiert und damit zur objektspezifischen Motivation werden.77 Ein „Bedürfnis“ könnte man dementsprechend auch als „Einstellung“ gegenüber einem bestimmten Objekt verstehen.

Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung zwischen einemWert und dem Bedürfnis als einer handlungsbezogenen Aktualisierung eines Wertes betrachtet Klages nun den Gegensatz zwischen Pflicht- und Akzeptanzwerten einerseits und Selbstentfaltungswerten andererseits. Pflicht und Akzeptanzwerte stellen laut Klages eine Synthese des Selbstkonzept mit sozialintegrativen Wirkungen dar, die zumeist einhergehen mit einem Ethos der „Einordnung in die Gemeinschaft, die Erfüllung autorativ geltend gemachter Außenanforderungen und den eigenen Einsatz im Hinblick auf vorgegebene Zielsetzungen zum Maßstab der persönlichen Selbstbeurteilung werden lässt.“78 Diesem Ethos steht die Polarität zwischen individuellem Selbst und seiner Umwelt gegenüber, wie sie aus der Position einer auf Selbstentfaltung hin orientierten Werthaltung empfunden wird. Statt der Einordnung in die Gemeinschaft spielt hier dann das „Ideal der Emanzipation von Autoritäten“ und die Forderung der Öffnung von Institutionen im Sinne der Verwirklichung von individuellen Partizipationsmöglichkeiten eine Rolle. Die Konfliktlinie besteht in der individuellen Entscheidung zwischen der Option der Zurückstellung der eigenen Lebensinteressen zugunsten der Gemeinschaft oder der Option der Verwirklichung eigener Lebensinteressen.79

Der Wandel vollzieht sich dabei, weil Werte situativ aktualisiert werden müssen, um ein individuelles Bedürfnis zu bleiben. Zunächst müssen sie im Sozialisationsprozess durch Vermittlung und Erfahrung erlernt werden und später kontinuierlich bestätigt bzw. legitimiert; also aktualisiert werden. Die Notwendigkeit der kontinuierlichen Aktualisierung gilt insbesondere für Pflicht- und Akzeptanzwerte, die „grundsätzlich Funktionen des Selbstzwangs und der Selbstkontrolle haben“ und daher gegenüber „natürlichen Bedürfnissen“ als Bedürfnisse des Selbstzwangs und der Selbstkontrolle ständig legitimiert und verteidigt werden müssen.80

Klages vertritt nun die These, dass diese individuelle Legitimierung und Verteidigung der Pflicht- und Akzeptanzwerte durch den Wegfall der Geschlossenheit eines relativen gesellschaftsweiten Konsens der Wertsysteme erheblich erschwert worden ist, wodurch die Kontinuität der Aktualisierung von Pflicht- und Akzeptanzwerten zerbrochen wird und es dementsprechend zu einem Verlust beispielsweise traditioneller Tugenden und einem Bedeutungszugewinn individueller Selbstständigkeit kommt. Das Bedürfnis nach Tugendhaftigkeit im Sinne von Pflicht- und Akzeptanzwerten nimmt ab, weil es im Alltagslhandeln nicht aktualisiert werden kann.

Es geht auf dieser Ebene nicht mehr um Werte oder Tugenden, die im historischen Wandel auftauchen oder verschwinden können, sondern vielmehr um elementare psychische Grundfunktionen, die aus der menschlichen Existenz unter keinen Umständen wegzudenken sind, die also letztlich überhistorisch (oder wenn man so will, ‚anthropologisch’) sind. […] Wir können ohne weiteres sagen, dass die verhältnismäßig harmlos klingende Formel ‚Von Pflicht- und Akzeptanzwerten zu Selbstentfaltungswerten’ auf einen Prozess von großer Dynamik und Tragweite hinweist, in welchem die conditio humana an einem zentralen Punkt zur Disposition gestellt wird, in welchem gleichzeitig aber auch alles, was gesellschaftliche ‚Rationalität’ und die soziale Gewährleistung von ‚Humanität’ betrifft, einem Vorgang der Infragestellung […] – kurz: des ‚Wandels’ – unterworfen wird.“81 Anders ausgedrückt wird die bereits von Nietzsche aufgeworfene Frage neu gestellt, welche die Faktoren des Lebens sind, an deren normativem Faktum sich die Wertorientierungen messen lassen müssen.

Was Klages hier als anthropologisch bedingten Wandel einer Rational Choice des Individuums vor dem Hintergrund einer Konfliktlinie zwischen gemeinschaftsorientierten Verhaltensweisen und eigenen Lebensinteressen darstellt, findet sich zugespitzt auch bei den von Langenbeck als neokonservativ bezeichneten Interpreten des Wertewandels. Dabei stellt der von Langebeck referierte Autor D. Bell eine unmittelbare Beziehung zum religiösen Glaubenssystem her. „Einst bildete die protestantische Ethik […] das moralische Zentrum der Kultur. Während noch vor zweihundert Jahren die Sozialstruktur mit dieser sie absichernden Kultur verflochten war, unterlag die Kultur allmählicher Abnutzung und gegen Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der kleinstädtische Protestantismus keine wirksamen kulturellen Symbole oder kulturellen Bräuche mehr vorzuweisen, die ein effektives System von Sinngehalten bilden oder eine Abwehrfunktion gegen Angriffe übernehmen konnten.“82 Indem es also auch Bell zufolge zu einem Verlust der im Bereich des Religiösen verankerten Akzeptanz- und Pflichtwerte kam, trat „im Zuge der Säkularisierung […] an die Stelle der religiös determinierten Deutung der Stellung des Menschen in der Welt ein subjektivistisches Weltbild […], welches das Individuum zum Referenzpunkt allen Seins hypostasiere“83 und an die Stelle einer methodischen Lebensführung einen auf die „Befriedigung hedonistischer Bedürfnisse abgestellten Lebensstil“ setzt.84 Infolge des „Narzissmus der Postmoderne“ fehle es den Menschen nach Meinung Bells daher an Respekt für „das Korrelat von Pflichten und Rechten als Grundprinzip staatsbürgerlichen Verhaltens“, was „den Bürgerwillen und die fraglose Erfüllung der Bürgerpflichten“ untergrabe.85 Entsprechend dieser Zuspitzung plädiert Bell für eine Reanimierung der religiösen Weltbilder.

5.1.4 Synchronität von Desorientierung und Emanzipation

Entsprechend der industrialisierungsbedingten Desintegration gesellschaftlicher Ordnungsmuster, wie beispielsweise ihrer Orientierung stiftenden Wertsysteme, haben nach Klages Meinung die vielen unterschiedlichen Ansätze der wertewandelbezogenen Forschung den Versuch gemeinsam, Interpretationen der geschichtlichen Entwicklung und ihrer scheinbar klaren Konsequenzen zu liefern. Was hier befriedigt werden soll, ist das Bedürfnis nach Sinnverstehen und Orientierung, obwohl es erkenntnistheoretisch in der Soziologie nur um die Analyse von Ursachen und Wirkungen gehen kann.86

Der Wertewandel im Sinne Klages ist eine Desorientierung im Bereich der Pflicht- und Akzeptanzwerte, die er auch mit dem Begriff der „Tugenden“ zu fassen versucht, die er auf die grundlegende Veränderung der conditio humana infolge des industrialisierungsbedingten Umbruch der gesellschaftlichen Verhältnisse zurückführt. Auf diesen Umbruch folgt die Reaktion der individuellen Emanzipation; also die Stärkung der Handlungsfähigkeit und Selbstlegitimierung des von der Desorientierung betroffenen Individuums, weil an die Stelle der unproblematischen Möglichkeit der Aktualisierung von Pflicht- und Akzeptanzwerten die Notwendigkeit der Präferenzentscheidung des Individuums getreten ist.

Damit aber lassen sich Klages und Inglehart in einer ersten Betrachtung auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Beide konstatieren einen Bedeutungszugewinn der Orientierung hin auf Möglichkeiten der individuellen Emanzipation vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Probleme im Rahmen der vom Individuum vorgefundenen materiellen Mittel.

Ein Vorteil der parallelen Betrachtung sowohl Ingleharts als auch Klages Argumentation ist die Differenzierung der Auffassung vom Begriff der „Selbstentfaltung“. So darf die post-industrielle Zeit nicht nur als „befreiend“ im Sinne der durch Wohlstand entstandenen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung verstanden werden, sondern auch als „verwirrend“ bzw. „desorientierend“. Die „Selbstenfaltung“ kann so als „Emanzipation“ zum Zwecke des Rückgewinnens von Orientierung verstanden werden.

Die Dimension der lerntheoretischen Motivation des Erwerbs von Verfügungsgewalt über Welt durch einen emanzipatorischen Zugewinn an Fähigkeiten bzw. „skills“ muss damit zusammen mit einem Bedürfnis nach Orientierung; also zusammen mit einer Aktualisierung des Werts der „Legitimität“ und einer daraus ableitbaren Rechtfertigung der individuellen Existenz und der sozialen Wirklichkeit gedacht werden.

Interessant ist dabei unter Umständen auch die Frage, ob das emanzipatorische Befähigungsstreben sich selbst in die Lage versetzt, ab einem bestimmten Punkt auch wieder gesellschaftliche Orientierung mittels neuer Pflicht- und Akzeptanzwerte erzeugen zu können, die solchermaßen Selbstkonzepte, die auf Orientierungen der Selbstentfaltung gründen, auf neue mit sozialintegrativen Wirkungen verbinden können. Die Frage ist, ob die Orientierungsleistung mittels der Emanzipationsbewegung gelingt.

Dies scheint jedoch mit dem Wertewandelmodell Ingleharts nicht beschrieben werden zu können, weil Inglehart nur ein eindimensionales; ein nur auf eine spezielle Soziologie hin ausgerichtetes Modell bietet, das eine Mehrheit von Trägern unterschiedlicher Werte – sogenannter Mischtypen – ausschließt.

Eine Orientierungsleistung mittels der Emanzipationsbewegung ist aber sehr wohl mit dem variablen, mehrdimensionalen Modell nach Klages und Duncker erklärbar, welches die Möglichkeit der Wertsynthese anbietet und sich nicht auf ein deterministisches Konzept festlegt, wie dem der von Inglehart beschworenen Wirkung der „formatives experiences“.

So ist denkbar, dass das Individuum sich nicht einer Entscheidung zwischen polarisierenden materialistischen und postmaterialistischen Werten entscheiden muss, sondern zu einer Synthese zwischen emanzipativen Selbstkonzepten und sozialintegrativen Wirkungsabsichten kommt, für deren individuell aufzubringende Kosten die Selbstentfaltung zurückgenommen oder mit dem Zugewinn an Gemeinschaftlichkeit identifiziert und somit umgedeutet wird. So ist auch vorstellbar, dass die Zurücknahme des Strebens nach Selbstentfaltung als legitim und angemessen empfunden werden könnte, wenn so Gemeinschaftlichkeit hergestellt werden kann, die das Individuum als das grundlegendere Bedürfnis empfindet.

In diesem Sinne argumentiert Karl-Heinz Hillmann. Weil in der vollkommenen Pluralität möglicher Werte die Suchbewegung des Individuums nach Orientierungshilfen zum kleinsten gemeinsamen Nenner aller Menschen würde, sieht Hillmann das Potential für neuerliche Hegemonien einzelner Wertvorstellungen, die das Selbstkonzept und sozialintegrative Wirkungen vereinen. Hoffnungsträger sind für Hillmann dabei verantwortungsbewusste Werteliten, deren „Opferbereitschaft“ der Politik neue Möglichkeiten eröffne. Hillmann setzt dabei anders als Bell nicht auf einen religiösen, sondern auf einen ökologisch inspirierten Puritanismus. „Das ökologische Bewusstsein, so seine Vorstellung, solle das säkulare Surrogat der protestantischen Ethik bilden, welches dem Kapitalismus – wie ehemals die religiöse angeleitete Lebensführung – dienlich sei.“87

5.2 Die Entwicklung politischer Handlungsfähigkeit

Im vorangegangenen ist ausführlich auf die soziologisch zu erklärende Entwicklung des Wertewandel eingegangen worden.

Inglehart geht jedoch mit der Thematisierung der zum politischen Handeln notwendigen Fähigkeiten über die bloße Analyse der Werte hinaus und erweitert sie um den Begriff der „skills“. Im elften Kapitel seines Buches „The Silent Revolution“ stellt Inglehart fest, dass es zwei grundlegende Entwicklungen sind, die in den westlichen Gesellschaften stattfinden. „One is cognitive, the other evaluative, and they seem equally significant.”88 Inglehart schenkt der Bildung damit nicht nur als Wertindikator, sondern auch als unmittelbar politisch wirksamen Faktor Aufmerksamkeit.

Wie auch bei Inglehart in seinem Buch, so ist auch hier in dieser Arbeit der Wertewandel eingehend erörtert worden. Es muss Inglehart jedoch zugestanden werden, dass in der kontroversen Diskussion des Wertewandel und seiner unterschiedlichen Modelle die zunehmende Verbreitung von Fähigkeiten, die nötig sind, um in ausgedehnten Gemeinschaften politisch agieren zu können89, noch nicht ausreichend Beachtung gefunden hat. Denn der Begriff der Fähigkeit ergänzt die Begriffe des Wertes und der Einstellung.

Inglehart geht es bei diesen „skills“ ausdrücklich nicht um einen Parameter der Veränderung der individuellen Einstellung gegenüber politischen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens, sondern um die davon unabhängige individuelle Fähigkeit und das nötige Wissen, um den politischen Prozess qualitativ überhaupt mitgestalten zu können90 – auch wenn zu fragen bleibt, inwiefern ein Zuwachs entscheidungsrelevantem Wissens die Einstellung gegenüber den behandelten Objekten verändert.

Zu einer Veränderung der Form der Teilhabe am politischen Prozess kommt es Ingleharts Meinung zufolge durch das kontinuierlich steigende Bildungsniveau des Einzelnen in den westlichen Gesellschaften einerseits und andererseits durch die mit der Landflucht verbundene Verdichtung der politischen Kommunikation in den Ballungsräumen. „The essence of this process is the development of the skills needed to manipulate political abstractions and thereby to coordinate activities that are remote in space or time. Without such skills, one is more or less doomed to remain outside the political life of modern nation-state.”91

Die von der Wert- und Einstellungsanalyse separate Betrachtung der Fähigkeiten sieht Inglehart als eine Differenzierung der “subjective political competence”, wie sie bereits Almond und Verba konzipiert haben. Almond und Verba unterscheiden dabei Inglehart zufolge vier unterschiedliche Stufen individueller politischer Partizipation: erstens die Teilnahme am Wahlakt, zweitens die Beobachtung der politischen Entwicklungen, drittens „the more active behavior of talking about politics“ und viertens „to do something about specific aspect of national politics“.92

Inglehart vermutet, dass diese Stufen individueller politischer Teilhabe mit dem Grad der politischen Befähigung zusammenhängen, wobei insbesondere für die vierte und anspruchsvollste Stufe der Politik mehr als nur Alphabetisierung nötig sei. „Taking the initiative at the national level seems to require at least a secondary education, and probably a university education.“93

Dalton und Hildebrandt spiegeln hier die Argumentationslinie Ingleharts wieder. Denn ihrer Meinung nach entzündet sich die „neue Politik“ thematisch meist an speziellen Themen der hochindustrialisierten Gesellschaft, wie am Umweltschutz, der Gleichberechtigung der Frau, den Problemen der Atomenergie, dem Thema der Schwangerschaftsunterbrechung oder der Scheidungsreform. An diese Felder ist dann zumeist auch die Forderung eines „Zugang zu politischen Mitteln und Ressourcen“ gekoppelt.94 Inglehart bezeichnet diese Partizipationsform als „issue-specific“.95

Dieser neue Modus politischer Partizipation, der sich von der althergebrachten Form etablierter politischer Organisationen und ihrer umfassenden Agenden unterscheidet, erscheint Inglehart mit seiner These der Verbreitung politischer Fähigkeiten konform. Denn ein nachlassendes Interesse an einer Mitgliedschaft in etablierten Organisationen ist nämlich laut Inglehart kein Zeichen politischen Desinteresses, sondern kann sich als emanzipiertes Verhalten deuten lassen. Schließlich würde die Mitgliedschaft in politischen Organisationen eine individuelle politische Handlungsbefähigung weder verlangen noch fördern. Zudem gründeten Mitgliedschaften nicht automatisch auf Wertorientierungen, die auch wirkliche Partizipation befürworteten.

Da somit sowohl die politische Emanzipation als neue Wertorientierung als auch die Komplexität von Organisationsstrukturen einer Mitgliedschaft in etablierten politischen Organisationen widerspräche, fördere der steigende Bildungsgrad in Verbindung mit der post-materialistischen Emanzipation die Bildung von Ad-hoc Gruppen in neuen Politikfeldern und senke zugleich die Nachfrage nach Mitgliedschaften in hierarchischen Organsationen.96

Das von Hildebrandt und Dalton entsprechend konstatierte Streben nach politischen Mitteln und Ressourcen erklärt sich demzufolge also mit der Veränderung der Verteilung politischer Fähigkeiten zwischen Eliten und der breiten Masse97:

„Political Participation remained relatively dependent on permanently established organizations as long as most of the people with bureaucratic skills held positions within these institutions. Today ad hoc organizations can be brought into being more or less at will because the public has an unprecedentedly large leaving of non-elites possessing high levels von political skills.“98

Analog zu der methodischen Erhebung der Entwicklung seiner Wertewandelskala entwickelt Inglehart daher den “Participant Potential index”, um seine Hypothese eines dank steigendem Bildungsniveau tendenziell zunehmenden Potentials politisch partizipierender Bürger zu überprüfen.

In diesem Zusammenhang werden die soziale Klasse, politische Fähigkeiten, die politische Selbstwahrnehmung im Sinne des kosmopolitisch-parochialen Gegensatzmodells Almond und Verbas und die Verbundenheit mit politischen oder sozialen Organisationen untersucht.99 Dabei sieht es Inglehart auf der Basis seiner Erhebung für erwiesen an, dass insbesondere die politische Befähigung den Ausschlag für das partizipative Potential gibt: „Precisely, as we hypothesized, the indicators of political acitivism and skills are linked with a broadly outward-looking political orientation.“100

Zusammenfassend kann man also sagen, dass Inglehart die Verbreitung politischer „skills“ auf die Expansion des Bildungswesens und einem damit verbundenen Wandel der sozialen Verteilung des für politische Handlungen relevanten Wissens zurückführt.

Schaubild 9: Ergänzung Dunckers Minimaldefinition des Verhältnis von Werten und Einstellungen umdie Dimension der Fähigkeit - der „Skills -, wiederum am Beispiel des Wertes familiäre Geborgenheit“

Schaubild 9: Ergänzung Dunckers Minimaldefinition des Verhältnis von Werten und Einstellungen um
die Dimension der Fähigkeit – der „Skills -, wiederum am Beispiel des Wertes familiäre
Geborgenheit“

Es muss jedoch die Frage gestellt werden, was die von Inglehart als „skills“ bezeichneten Kulturelemente auszeichnet, die sich infolge der Bildungsexpansion über die traditionellen Eliten hinaus in der breiten Masse ausbreiten. Denn die „Political Skill Indicators“ umfassen bei Ingelhart lediglich den Index politischer Informiertheit und den Bildungsgrad des jeweils erhobenen Probanden.101 Damit aber greift Inglehart sehr kurz, da in keiner Weise hinterfragt wird, welches kulturelles Wissen, welche Symbole, Techniken, Rituale und Handlungsweisen in dem vermittelten Wissen des jeweiligen Kulturkreis enthalten sind, inwiefern diese kultuellen Elemente durch das Bildungswesen perpetuiert werden und wie es in diesem Bereich der „skills“ zur Innovation; also zur Entwicklung neuer und vergessen alter „skills“ kommt.

Ähnlich Inglehart, der zwischen Einstellung und skill differenziert, stellt auch Birgit Schwelling fest, dass politische Kultur im Sinne Almond und Verbas sowohl als Orientierung, Wertvorstellung oder Einstellung, als auch als „symbolische Form unterschiedlicher Art, wie z.B. als Fest, Ritual, Fahne, Architektur, Sprache“ verstanden werden kann.

Schwellings Ansatz zu integrieren bedingt eine Übersetzung der hier verwendeten Terminologie, denn die eingangs vorgenommene Differenzierung der Kultur als einem diskursiven Zusammenhang ähnlich dem systemstrukturellen Ansatz Talcott Parsons ist bei Schwelling implizit. Wenn Schwelling von Kultur spricht, so integriert sie in diesem Begriff sowohl die hier unterschiedenen Ebene der Werte als auch die der „Skills“.

Diese Besonderheit ist Schwellings Ansatz geschuldet, Kultur als kollektiven Wissensvorrat zu verstehen. Auch wenn sich Schwellings Betrachtung auch auf die Kontingenz der Wertsysteme beziehen lässt, so bietet sich an dieser Stelle vor allem die Möglichkeit der kritischen Differenzierung des von Inglehart eingeführten Begriffs der „Skills“.

Schwelling unterscheidet im Sinne Schütz und Luckmanns explizites Wissen von Routinewissen, wobei zum Routinewissen „Fertigkeiten, wie auch Gebrauchs- und Rezeptwissen“ gehören.102

Solche Routinewissensgehalte liegen in den kulturellen Mustern, in deren Kontext Menschen sozialisiert werden. Ganz im Sinne des von Inglehart beschworenen Effekts bedeutet Bildung daher auch, kulturelle Muster zu internalisieren. Damit jedoch verfügt das gebildete Individuum vor allem über „die einer kulturellen Einheit unterlegten Wissensvorräte“ und ist mithin kompetent „sie […] einzusetzen und darüber die Lebenswelt zu strukturieren und sich in ihr zurechtzufinden.“103

Der Begriff des kulturellen Muster weist jedoch bereits darauf hin, dass dieses Routinewissen in Wir-Beziehungen verankert ist, die wiederum auf sozialen Strukturen basieren. „Mitglieder dieser Wir-Beziehungen teilen typisch ähnliche Probleme und einen gemeinsamen Bestand an Wissen, der zur Lösung dieser Probleme herangezogen wird.“104 Die Wir-Beziehungen in sozialen Strukturen wiederum konstituieren sich den systemtheoretischen Annahmen Mannheims und Parsons zufolge auf der Basis von Werten als symbolischen Integrationsmustern und als Strukturen des sozialen Handelns. Weniger abstrakt ausgedrückt könnte man daher spekulieren, dass in spezifischen Wir-Gruppen, die sich durch spezifisch unterschiedliche Wertmuster unterscheiden, ebenfalls variierende kulturelle Muster mit unterschiedlichen Routinewissensinhalten existieren. In diesen Bereich fällt dann unter Umständen auch Bourdieus Analyse der „feinen Unterschiede“.

Mit dieser Überlegung eröffnet sich dann die Möglichkeit, vor dem Hintergrund des inglehartschen „Skill“-Begriffs auch das Phänomen der Konzentration von Herrschaft erklärbar zu machen. Es bietet sich hier unter Umständen die Möglichkeit den Umstand in die Diskussion zu integrieren, dass Wissen ungleich verteilt ist.

Die Verteilung spezifischen Wissens muss von der Ausweitung des allgemeinen Bildungsniveaus unterschieden werden, weil sich kulturelles Routinewissen anders als explizites Wissen nicht ausschließlich durch höhere Bildung und vielleicht noch eher verbunden mit dem sozio-ökonomischen Status der Eltern verteilt. Aber auch der sozio-ökonomische Status der Eltern sagt noch nichts über die Qualität der politischen „Skills“ aus, die Teil des Routinewissen innerhalb der kulturellen Muster einer bestimmten Schicht sind. Beispielsweise wird dem deutschen Bürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterstellt, dass es in Wirtschaft und Wissenschaft brillierte, während es das Politische den Beamten des Staates überließ und politische Umtriebe mit Skepsis verfolgte, obwohl es teilweise außerordentlich gut und sogar universitär gebildet war. Der Wertewandel des 20 Jahrhunderts mag die Universitätsbildung breiteren Massen zugänglich gemacht haben, jedoch stellt sich weiterhin die Frage, welche Wirkung das noch althergebrachte kulturelle Routinewissen betreffs des Politischen sowohl auf die Mehrheit der Nachfahren dieses alten Bürgertums als auch auf die Mehrheit der nun neu in die höhere Bildung strömenden unteren Schichten bis heute hat, selbst wenn in der höheren Bildung postuliertes explizites Wissen tradiertem Routinewissen widerspricht oder es ergänzt.

Schaubild 10: Einfluß kulturellen Wissens auf die Ebene rationalen Handelns. Das Schaubild verdeutlicht, dass rationales Handeln sowohl im Bereich des Motivs also auch im Bereich der Handlungserwartung durch kulturelles Wissen determiniert sein könnte. Das Motiv kann durch erworbene Werte mitbestimmt sein. Die Handlungserwartung kann ebenso durch die Kenntnis kulturell vorgefundener Handlungsweisen und den mit ihr verbundenen Erwartungen kulturell determiniert sein. Hierbei ist dann die Frage nach dem Verhältnis sozial tradierten und durch Schulbildung erworbenen Wissens zu stellen.

Schaubild 10: Einfluß kulturellen Wissens auf die Ebene rationalen Handelns. Das Schaubild verdeutlicht, dass rationales Handeln sowohl im Bereich des Motivs also auch im Bereich der Handlungserwartung durch kulturelles Wissen determiniert sein könnte. Das Motiv kann durch erworbene Werte mitbestimmt sein. Die Handlungserwartung kann ebenso durch die Kenntnis kulturell vorgefundener Handlungsweisen und den mit ihr verbundenen Erwartungen kulturell determiniert sein. Hierbei ist dann die Frage nach dem Verhältnis sozial tradierten und durch Schulbildung erworbenen Wissens zu stellen.

So darf die Frage gestellt werden, ob der Bildungsgrad untersuchter Personen allein bereits etwas über die inhaltliche Qualität der politischen Fertigkeit sowie des politischen Gebrauchs- und Rezeptwissen aussagt, das als Routinewissen in den kulturellen Mustern des durchlaufenen Bildungssystems liegt. Es muss die Frage gestellt werden, ob das in der höheren Bildung Erlernte tatsächlich politische Fertigkeiten enthält, die im Sinne der von Inglehart thematisierten politischen Emanzipation als skills brauchbar sind und eine adäquate Befähigung darstellen.

Denn ebenso wäre denkbar, dass im Sinne der Unterscheidung von Allgemein- und Sonderwissen nach Schütz und Luckmann „Gruppen von Experten […] einen der institutionellen Katalysatoren der Machtkonzentration“ bilden105, mit denen die neuerdings gebildete Masse gegebenenfalls immer noch nicht konkurrieren könnte, weil entsprechendes Sonderwissen nicht Teil der via höherer Bildung internalisierten kulturellen Muster der breiten Bevölkerung ist.

Andererseits stellt sich die Gegenfrage, inwiefern unter den Vorzeichen einer allgemeinen Expansion der Bildung und einem – auch in dieser Arbeit konstatiertem – Umbruch der Gesellschaft sich überhaupt noch Eliten reproduzieren können, die herrschaftsrelevantes Sonderwissen in Form kulturellen Routinewissens akkumulieren. Denn Wissen kann zwar „in institutionell abgesicherten Formen über die Generationen hinweg tradiert und erhalten werden […]. Die Anbindung des gesellschaftlichen Wissensvorrats an soziale Strukturen bürgt dann für Kontinuität und Stabilität, wenn die Sozialstruktur über Generationenwechsel hinweg erhalten bleibt.“106 Jedoch ist es konsequenterweise fragwürdig, ob im Zuge des konstatierten Wertewandels die Sozialstrukturen tatsächlich und schichtübergreifend erhalten werden können.

Die hier skizzierte Kritik an Ingleharts undifferenziert wirkendem Kurzschluß zwischen dem allgemein steigenden Bildungsniveau einerseits und der politischen Befähigung andererseits wird auch von Schwelling relativiert.

Denn „Kultur ist zwar ein kollektives Phänomen, aber sie besteht dennoch nicht unabhängig von individuellen Akteuren, die durch ihr Handeln in der Interaktion mit anderen kulturelle Muster erst entstehen und bestehende Formen aufnehmen, ablehnen, modifizieren oder in Vergessenheit geraten lassen.“107

Neben dem Routinewissen, dass implizit in den kulturellen Mustern enthalten ist, in denen das Individuum jeweils sozialisiert wird, ist das Individuum auch zu einem gewissen Grad unabhängig. Denn es erwirbt auch Wissenselemente, die als Erfahrung einzig mit seiner Biographie zusammenhängen; die also auf die „biographische Einzigartigkeit der subjektiven Erfahrung“ zurückgehen und sich „der sprachlichen Objektivierung“ entziehen.108

Darin ist folglich die Möglichkeit der Innovation sowohl im Bereich der Werte als auch im Bereich des Wissens unabhängig von der kulturell determinierten Ausgangslage zu sehen.

6. Zusammenfassung

Der Wertewandel ist für die Diskussion der „politischen Kultur“ eine entscheidende Komponente. Diese Verbindung von Wertewandel und Politik ist insbesondere durch die prominente These Ingleharts „Silent Revolution“ bekannt geworden. Sie wird jedoch unterschiedlich gedeutet. Eine nicht minder bedeutende Komponente der politischen Kultur ist das kulturelle Wissen. Auch wenn dieses Wissen ebenfalls von Inglehart in seiner Arbeit berücksichtigt worden ist, so ist dieser Teil des Diskurses weit weniger bekannt geworden.

Der Begriff der politischen Kultur ist am prominentesten von Almond und Verbas als Orientierung gegenüber politischen Objekten definiert worden. Gerade Almond und Verba, die sich in ihrem theoretischen Ansatz auf die Kulturanthropologie von Ruth Benedict beziehen, sind nicht frei von Kroebers und Kluckhohns Feststellung, dass es sich bei dem Begriff der Kultur mehr um ein Konzept und um eine Ansammlung unterschiedlicher Komponenten, als um eine geschlossene Theorie handelt. Dies meint auch der Politikwissenschaftler Max Kaase, wenn er die Tauglichkeit des Begriffs „politische Kultur“ für makroanalytische Betrachtungen anzweifelt und feststellt, dass die Verwendung des Begriffs der politischen Kultur nur Sinn macht, wenn man die einzelnen Bestandteile des Konzeptes separat untersucht. Zu diesen Bestandteilen zählt er die Normen- und Wertsysteme als Bindemittel einer Gesellschaft und die Zusammensetzung dieser Normen- und Wertsysteme mit anderen kulturellen Elementen, wie den gesellschaftlichen Institutionen. Neben diesen einzelnen Komponenten, erstens dem Wertsystem und zweitens den Institutionen, hält Kaase drittens die Analyse des Sozialisationsprozess für unabdingbar. Denn hier entscheidet sich abhängig von unterschiedlichen Einflüssen die Stabilität und die Verteilung von Werten und kulturellen Elementen. Kaase fordert damit die klare Trennung von Wert- und Handlungsebene, wenn es um politische Kultur geht. Für die politische Handlungsebene ist dabei das Wissen in einer Gesellschaft als ein wichtiges Teilelement von politischer Kultur relevant und kann als vierte Komponente betrachtet werden.

In der Diskussion des Wertbegriff, der die zentrale Kategorie der ersten Komponente der politischen Kultur ist, hat man schon früh das Bemühen aufgegeben, Werte philosophisch zu entwickeln. Nietzsche hat darauf verwiesen, dass Werte sozial kontingent bestimmt sind und einzig das Leben als normative Prüfinstanz über die Lebensfähigkeit von Wertvorstellungen entscheidet. Entsprechend stellt sich die Soziologie heute nur die Frage nach der Genese von Werten, nicht aber die nach den „richtigen“ Werten. Westmeyer und Krieger zeigen, dass die sozialpsychologische Wertforschung dabei auch heute noch auf metaphysischen Begriffskonstruktionen basiert, wobei Werte grob gesagt Zielvorstellungen mit zumeist drei unterschiedlichen Adressaten sind: erstens dem individuellen Leben, zweitens die tugendhaften Vorstellungen sozialen Verhaltens und drittens Vorstellungen vom gesellschaftlichen und damit politischen Leben. Die Rational-Choice-Forschung hat diesen Begriff des Wertes zum Verschwinden gebracht. Jedoch zeigt Krieger, dass gesellschaftskulturelle Werte als die kulturelle Variable im individuellen Bedürfnis enthalten sind, das der rationalen Wahl zugrunde liegt. Werte spielen somit auch in der Rational-Choice-Theorie eine wenn auch unbeachtete Rolle. Auch wenn die Werte empirisch durch die Sozialpsychologische Forschung nicht „entdeckt“ werden können, so wird ihre Existenz dennoch von der systemtheoretischen Sozialwissenschaft bspw. Talcott Parsons als symbolische Integrationsformeln angenommen, die das individuelle Handeln und die Struktur des sozialen Systems in Einklang bringen. Die so gesellschaftliche Ordnung stiftenden Werte werden mittels Ideologien, religiösen und weltanschaulichen Deutungsmuster tradiert.

Dunckers Minimaldefinition des Wertbegriffs, dessen Übernahme in dieser Arbeit grundlegende Orientierung beim Vergleich der verschiedenen Autoren bietet, entspricht exakt dem Charakter der Definition einer metaphysischen Begriffskonstruktion, wobei sie sich auf die nach Krieger definierte dritte Wertart der Vorstellung vom gesellschaftlichen und damit politischen Leben konzentriert. Einstellungen orientieren sich Duncker zufolge an Werten als übergeordneten Leitlinien und beziehen sich auf konkrete Objekte. Almond und Verbas Begriff der politischen Kultur als „orientation toward political objects“ entspräche Dunckers Definition zufolge einer „Einstellung gegenüber einem politischen Objekt“.

Der Wertewandel ist vor allem in der Nachkriegszeit als Konzept zur Erklärung politischer Veränderungen publik geworden, weil sich insbesondere in den 70er Jahren neue Politikfelder entwickelten, die auf veränderte Einstellungen betreffs bestimmter gesellschaftlicher Probleme und Fragestellungen hinweisen. Hildebrandt und Dalton haben sich in ihrer Arbeit dem Widerspruch der Inglehartschen These und den Wirtschaftskrisen der 70er Jahre gestellt, der darin besteht, dass das inglehartsche Wertewandelkonzept dem historisch nie da gewesenem Wohlstand zentrale Bedeutung für das Aufleben neuer Wertprioritäten beimisst. Die von Hildebrandt und Dalton logisch konsequente Analyse der sozialen Struktur der Trägerschaft dieser neuen politischen Einstellungen weist auf Angestellte und Beamte hin, die anders als die klassischen Lager der Arbeiter und Unternehmer wirtschaftlichen Schwankungen weniger stark ausgesetzt sind109. Der politische Einfluß dieser Trägerschaft wird von den Autoren auf ein allmähliches Agendasetting reduziert, weil Parteien mit politischen Angeboten einer attraktiv grossen Wählerschar gerecht zu werden versuchen. Diesen Zusammenhang zwischen de Wertewandels einerseits und der politischen Veränderung andererseits bricht Inglehart auf zwei parallele Entwicklungen herunter, die dementsprechend an einer speziellen Soziologie, wie der der Beamten und Angestellten, zu untersuchen wäre. Zum einen die soziologische zu erklärende Entwicklung des Wertewandel, zum anderen die Entwicklung der Fähigkeit, politisch zu wirken. Letztere fasst Inglehart begrifflich auch als „Skills“.

Der soziologischen Erklärung und Analyse des Wertewandels wird in der Literatur derart viel Bedeutung eingeräumt, dass die parallele Entwicklung politisch relevanter „Skills“ aus der Diskussion der politischen Kultur ausgeblendet worden ist. Damit hat man zwar insbesondere der Untersuchung der ersten und dritten Komponente politischer Kultur – den Wert- und Normensystemen und ihrer Veränderung – entsprochen, vernachlässigt aber die von Schwelling in die Diskussion eingebrachte vierte Komponente politischer Kultur – das kulturell verfügbare Wissen.

Im Kern dieser Arbeit sind vor allem die unterschiedlichen Interpretationen des Wertewandels diskutiert worden. Ingleharts Paradigma ist die Verbindung einer Sozialisation in Wohlstand und Frieden, wie sie die Jugend der Nachkriegszeit erlebt, mit der Theorie der Bedürfnishierarchie nach Maslow. Im Vergleich von Alterskohorten versucht Inglehart die Nachhaltigkeit der prägenden Sozialisationserfahrung der Adoleszenzphase nachzuweisen, um die These eines langfristigen Wandels gesellschaftlicher Wertprioritäten zugunsten postmaterieller Werte der Selbstverwirklichung zu stützen. Der sozio-ökonomische Status und der Bildungsgrad erscheinen ihm dabei als die aussagekräftigsten Indikatoren zur Erklärung eines solchen Wertewandel beim einzelnen Probanden. Weil aber die ökonomische Ist-Situation sich deutlich von der der Sozialisationsphase unterscheiden kann, insistiert Inglehart auf der größeren Bedeutung der „formatives experiences“ der Adoleszenzphase. Die drängendste Kritik an Ingleharts Konzept ist daher die Frage nach dem Effekt späterer Lebenserfahrungen auf die Wertorientierung des Individuums. Die hier in Frage gestelllte Kontinuität des Wertewandel, mit der Inglehart über Jahrzehnte hinweg seine Thesen statistisch belegen kann, erklärt sich unter Umständen darüber hinaus aus der weiterreichenden Kritik, dass das von Inglehart untersuchte Phänomen einer eindeutig postmaterialistischen Wertorientierung auf eine spezielle Soziologie beschränkt bleibt, während eine Mehrheit von „Mischtypen“ anderer Soziologien, die „postmaterialistische“ mit „materialistischen“ Orientierungen vermischen, vom Inglehartschen Modell nicht erklärt werden. Auch Hildebrandt und Dalton konstatieren schon 1977, dass postmaterialistischen Werte in von der Wirtschaftskrise verschonten Nischen überdauern, weil die Träger – Beamte und Angestellte – von deren Auswirkungen weniger betroffen sind. Ein alternatives Modell, wie es Duncker entwickelt, verzichtet daher auf eine eindimensionale Betrachtung und versucht, eine mehrdimensionale Wandelmöglichkeit für beliebige Soziologien ohne den Determinismus anzubieten, den die von Inglehart überzeichnete maslowsche Bedürfnispyramide beinhaltet. Hierbei gewichtet Duncker die Rolle von Werten der Selbstentfaltung im Verhältnis zu Pflichtwerten und kommt so zu vier alternativen Möglichkeiten: dem Verlust von Werten gleich welcher Orientierung, zwei unterschiedlichen Möglichkeiten des Wertumsturz von einer Orientierung zur anderen und zur Synthese von Pflichtwerten und Werten der Selbstentfaltung.

Diese alternative Wertwandelmodell unterscheidet sich von Inglehart insbesondere durch seinen sorgfältigeren Versuch einer kulturhistorischen bzw. anthropologischen Gründung des Wertewandel. Besitzt der von Inglehart an Maslow orientierte Begriff der postmateriellen Selbstentfaltung eine Konnotation persönlicher „Freiheit“, so stellt Klages – an dem sich Duncker orientiert – die Frage nach der Veränderung der Möglichkeit der Sinndeutung der individuellen Existenz und der sozialen Wirklichkeit im Kontext der sozialstrukturellen Veränderung der Moderne. Dabei skizziert Klages einen sozialpsychologischen Mechanismus, der eng mit Kriegers Skizze des Rational-Choice-Modell verwandt ist. Klages behauptet, dass Werte bezogen auf entsprechende Handlungssituationen relevant werden und erst in solchen Zusammenhängen „aktualisiert“ werden. Die Wertorientierung wird von Klages analog zum Rational-Choice-Modell Kriegers als Teil des handlungsleitenden Bedürfnis gegenüber einem Objekt verstanden. Nun aber kommt Klages zufolge zu einer Konfliktlinie zwischen Selbstentfaltungswert und Pflichtwert. Da das Individiuum den Pflichtwert als Leitbild einer Selbstdisziplinierung vor sich selbst legitimieren muss, ist das Individuum auf den in der sozialen Umwelt erfahrbare gesellschaftlichen Konsens solcher Pflichtwerte angewiesen, um ihre situativ handlungsbezogene Aktualisierung in einem Akt rationaler Wahl zu rechtfertigen. Klages und auch Bell sind nun der Meinung, dass eine Geschlossenheit eines relativen gesellschaftlichen Konsens zum Wert- und Normensystem in der modernen Gesellschaft so weitreichend verloren gegangen ist, dass das Individuum den so eingetretenen Orientierungsverlust bzw. den Verlust gesellschaftlich anerkannter und perpetuierter Tugenden durch individuelle Selbstständigkeit und Emanzipation kompensieren muss. Anders als Inglehart versteht Klages daher Emanzipation als Ersatzhandlung für verlorene Orientierung. Akzeptiert man diese Relativierung der Begriffe wie Selbstentfaltung oder auch Emanzipation, so ist auch die Motivation zum Erwerb politischer „Skills“ auf einem quasi anthropologischen Wert gegründet – nämlich der Vorstellung und dem damit verbundenen Bedürfnis der Legitimierbarkeit der eigenen Existenz. Der gemeinsame Nenner Klages und Inglehart besteht dabei in der Frage nach der Qualität und der Möglichkeit von Emanzipation. Im Hinblick auf die von Langenbeck als neokonservativ bezeichnete Kritik am allgemeinen Orientierungsverlust ist letztlich die Frage interessant, inwiefern eine postmaterielle Selbstentfaltung einerseits und die Suche nach hiermit vereinbaren und notwendig sozialintegrativ wirkenden Pflichtwerten in neuen Wertsynthesen möglich ist. Eine Hypothese in dieser Richtung ist der von Hillmann behauptete „ökologisch inspirierte Puritanismus“.

Wesentlich weniger stark als der Wertewandel ist in der Diskussion der politischen Kultur die Rolle der „Skills“ betrachtet worden. Bildung wird von Inglehart nicht nur als erklärende Variable für den Wertewandel erörtert, sondern auch als Quelle der für politisches Handeln notwendigen Fähigkeit, abstrakte politische Probleme als solche bearbeiten und politische Aktivität räumlich und zeitlich steuern zu können. Auch Hildebrandt und Dalton haben festgestellt, dass die politische Emanzipation von Bürgern in zum Teil neuen Politikfeldern mit der Forderung nach politischen Mitteln und Ressourcen gekoppelt war. Als ein Zeichen politischer Befähigung sieht Inglehart auch das Fernbleiben der Bürger von etablierten Parteien und politischen Institutionen zugunsten der Bildung von Ad-hoc Gruppen. Denn dies deutet er als Hinweis darauf, dass das administrative und politische Wissen heute ausreichend weit verbreitet ist, um einerseits den Hierarchien und den eingeschränkten Möglichkeiten der Selbstentfaltung innerhalb althergebrachter Organisationen bewusst eine Absage erteilen zu können und sich gleichzeitig kraft des dazu notwendigen Wissens spontan und effizient selbst in neuen Gruppen politisch formieren zu können. Diese Denkweise entspricht ganz der inglehartschen Konnotation des Begriffs der Emanzipation.

Betrachtet man die Entwicklung politischer „Skills“ jedoch im Zusammenhang mit dem Aspekt der Desorientierung, die Klages zufolge den Wertewandel auszeichnet, so könnte das Fernbleiben der Individuen von gesellschaftlichen Organisationen auch einem Verlust bzw. einem in Vergessenheit geraten sozialintegrativ wirkender Werte geschuldet sein, die einst die Menschen in die Lage versetzten, sich zu politisch mächtigen und klar orientierten Verbänden zusammenzuschließen. Diese mögliche Interpretation wird auch durch die Feststellung Dunckers gestützt, dass sich beispielswise die Mediennutzung verändert hat: Statt politisch informierender Formate würden heute zunehmend einfachere Formate konsumiert, die vor allem in Form von Klischees und kulturell typischen Handlungsmustern dem Zuschauer das Gefühl klarer gesellschaftlicher Wertstrukturen vermittelten. Der Wunsch nach politischer Aktivität sei dem Wunsch individueller Orientierung gewichen.

Die Gegenüberstellung der von Inglehart behaupteten Zunahme postmaterialistisch geprägter Menschen einerseits, die sich dank einer zunehmenden Verbreitung politischer „Skills“ ad-hoc politisch formieren können, und die Feststellung des Umstands, dass Ingleharts Analyse wahrscheinlich nur auf eine spezielle Soziologie beschränkt bleibt und die Desorientierung und Wertpluralität anderer großer Gruppen der Bevölkerung, die vielleicht sogar eine Mehrheit darstellen, unberücksichtigt lässt, stellt vor dem Hintergrund des Faktums des tatsächlich hohen Bildungsgrads weiter Bevölkerungsschichten westlicher Industriestaaten die Gleichsetzung von Bildungsgrad mit politischer Befähigung in Frage. Ingleharts „Political Skill Indicators“ sagen nichts darüber aus, welches für politisches Handeln relevante kulturelle Wissen, welche Symbole, Techniken, Rituale und Handlungsweisen in dem vermittelten Wissen des jeweiligen Kulturkreis tatsächlich enthalten ist.

Die in einer Gesellschaft ungleiche Verteilung von politisch relevantem Wissen muss nicht zwangsläufig durch die zunehmende Bevölkerungsdichte und Bildungsexpansion aufgelöst worden sein. Inglehart führt in diesem Bereich das Argument an, dass vor allem die höhere Bildung durch ihre vielfältigen und unterschiedlichen Eindrücke und Begegnungen mit anderen Menschen weitaus heterogenere Meinungen formt, als bei Menschen, die in homogene und langfristig stabilere soziale Beziehungen eingebettet sind. Einer heterogeneren politischen Meinung mag zwar eine veränderte politische Einstellung entspringen. Sie ist aber nicht zu verwechseln mit dem sozialisierten kulturellen Routinewissen und dem explizit angeeigneten Wissen und seiner politischen Wirkung und Verwendbarkeit. Ein Diplom-Ingenieur mag seine eigene Meinung und eine klare politische Vorstellung haben. Deshalb muss er aber trotz seines hohen Bildungsgrad noch lange nicht die notwendigen politischen „Skills“ besitzen, um seiner Einstellung entsprechende politische Handlungen durchführen und Wirkungen erzielen zu können.

Dieses handlungsrelevante Wissen liegt unter Umständen viel eher im Bereich des kulturellen Wissens, wie es von Birgit Schwelling als vierte Komponente politischer Kultur in die Diskussion eingeflossen ist. Weil es aber unter Umständen als kulturelles Muster an spezifische Wir-Gruppen gekoppelt ist, ist denkbar, dass mit der Soziologie der Beamten und Angestellten andere kulturelle Muster und damit verbunden andere kulturelle Wissensvorräte verbunden sind, als mit übrigen Gruppen der Gesellschaft. Und auch die Gruppe der Beamten und Angestellten kann wiederum im Hinblick auf unterschiedliche kulturelle Wissensvorräte abhängig bspw. von Berufsgruppen oder familiären Traditionen differenziert werden.

Die Bildungsexpansion mag zwar der Verbreitung explizitem, auch für politisches Handeln relevantem Wissen Vorschub geleistet haben. Nichts desto trotz stehen diese expliziten Wissensvorräte in ihrer Verwendung in Verbindung mit kulturellen Wissensvorräten, die in speziellen Soziologien tradiert werden, weshalb sich wahrscheinlich auch trotz des allgemein konstatierten Wertewandel Gruppen von Experten und entsprechende Machtkonzentrationen bilden. Zudem muss die auch die Frage erörtert werden, welchem Wissen die politisch größere Brisanz zukommt und wie die Verteilung dieses Wissens unabhängig vom Wertewandel sozial verteilt ist. Darin liegt auch eine Relativierung der gegebenenfalls bis zur Verschwörungstheorie entwickelten Idee der Akkumulation herrschaftsrelevantem Wissens: auch die Geschlossenheit der politischen Eliten dürfte durch den sozialstrukturellen Wandel und auch durch den Wertewandel auf Dauer in Frage gestellt sein. Zudem ist das Individuum dank biographisch einmaliger Erfahrungen auch immer selbst eine Quelle nicht kollektiv-geteilten Wissens, welches das Individuum selbst die Option bietet, zum Teil der gesellschaftlichen und politischen Elite zu avancieren. Politische Eliten, die ihre Position durch entsprechende politische „Skills“ erworben haben, die nicht alleine auf den Bildungsgrad, sondern auch auf schichspezifische kulturelle Wissensvorräte zurückgehen, müssten dementsprechend auch einem kontinuierlichem personellem Wandel unterworfen sein.

7. Schlussfolgerung

Insbesondere die Erörterung der soziologisch zu erklärenden Entwicklung des Wertewandel und die skizzierte Entwicklung der Fähigkeit, politisch zu wirken, haben deutlich gemacht, dass das Interesse an der konzeptionellen Grundlegung des Begriffs der „politischen Kultur“ schnell über die Grundlegung hinaus geht.

Unterschieden werden müssen die Bemühungen, kulturelle Prozesse zu verstehen und soziologisch zu erklären von Bestrebungen, konkrete Entwicklungen mittels solcher Erklärungsmodelle zu interpretieren.

Kroeber und Kluckhohn definieren Kultur als „created by individual organisms and by organisms operating as a group. It is internalized in individuals and also becomes part of their environment through the medium of other individuals and of cultural products. Acts take place (a) in time between persons, (b) in space in an environment partly made up of other persons. But because acts take place in time the past continues to influence the present. The history of each group leaves its precipitate – conveniently and, by now, traditionally called ‘culture’ – which is presented in persons, shaping their perceptions of events, other persons, and the environment situation in ways not wholly determined by biology and by environmental press. Culture is an intevening variable between human ‘organism’ and ‘environment’.”110

Analog zu dieser Definition lassen sich anhand der vorliegenden Arbeiten entsprechende Themen identifizieren, die weiterführend bearbeitet werden können:

      • der Ablauf und die Funktionsweise der Sozialisation von Individuen,
      • die Integration von Individuen in Gruppen,
      • Individuen und Gruppen als systemtheoretisch integrierte Teile der Gesellschaft
      • und die erwähnten kulturellen Produkte, zu denen die Komponenten „gesellschaftliche Institutionen“ und „kulturelles Wissen“ zählen und die letztlich den Niederschlag von Gruppen in Form kultureller Muster, Verhaltensweisen und Umwelten darstellen.

Politische Kultur ist von daher keine analytische Kategorie und auch kein definierter Begriff, sondern die Bezeichnung eines Konzepts, das eine Zusammenstellung verschiedener Theorie- Komponenten umfasst. Der Begriff „politische Kultur“ kann somit nicht für sich allein verwendet werden, sondern muss immer in Verbindung mit dem Hinweis verbunden sein, welche Komponente politischer Kultur gerade betrachtet wird. Der Ausdruck, dies oder jenes läge in oder an „der politischen Kultur“ ist unzulässig, solange nicht auch die spezifische kulturelle Komponente – wie etwa das Wertsystem, das Institutionengefüge, der Sozialisationsprozess oder das kulturelle Wissen – genannt wird und eine spezielle Soziologie oder soziale Entität genannt wird, dessen politische Kultur gemeint ist.

Aussagen über politische Kultur sind nur sinnvoll, wenn zum einen die jeweils betrachtete Komponente theoretisch sorgfältig durchdrungen wird und sich die Analyse auf eine eindeutig bestimmte Entität beschränkt.

Die von der Politikwissenschaft gewünschte erklärende Kraft des Konzepts ist dementsprechend nur dann vorhanden, wenn Entwicklungen innerhalb oder im Wirkbereich einer Gruppe durch diachrone Untersuchungen eben der fraglichen Gruppe nachvollzogen werden können, die auf einer adequaten Theoriearbeit zur jeweils betrachteten Komponente fußen.

Fraglich bleibt jedoch, ob entsprechende Untersuchungen zu ganzen Nationen oder gar vergleichende Studien zu ähnlich großen Entitäten möglich sind. Mögen die Komponenten politischer Kultur soziologisch auch theoretisch sorgfältig durchdrungen worden sein, so müssen einerseits immerhin ungeheuer viele unterschiedliche Soziologien berücksichtigt werden. Andererseits müssen gemäß der Definition Kroeber und Kluckhohns auch die zeitlich und räumlich wirkenden, kulturell geprägten Einzelindividuen der jeweiligen Soziologien und deren jeweils wirkenden kulturellen Produkte berücksichtigt werden.

Ist dementsprechend alleine der Aufwand für die sorgfältige Analyse des kulturellen und soziologischen Prozess gigantisch, so ist es die sorgfältige synchrone und diachrone Analyse einer konkreten Entitität um so mehr.

Deshalb mag zwar die Beschreibung von Phänomenen spezieller Soziologien methodisch noch glücken. Spätestens aber auf dem Feld der Prognose wird die Qualität der soziologischen und kulturgeschichtlichen Vorarbeit die Spreu vom Weizen trennen.

Hoffmann-Lange bestätigt mit ihrer Kritik an den Jugendstudien die hier getroffene Festellung der Komplexität der politischen Kulturforschung, die an Studien auf diesem Gebiet höchste Qualitätsanforderungen in der theoretischen Durchdringung als auch in der Untersuchungsmethodik stellt.

So sei es beispielsweise gerade „in Deutschland üblich, stets voller Besorgnis die aktuellen Trends in den politischen Orientierungen der Jugend zu verfolgen, um daraus Schlüsse auf die Zukunft der deutschen Demokratie“111 zu ziehen. Abgesehen von gravierenden methodischen Mängeln und mangelnder Vergleichbarkeit einzelner Studien hätten die Jugendforscher dabei aber zumeist nur unzulängliche Kenntnisse von Ergebnissen der Einstellungsforschung. Lebenszykluseffekte blieben unberücksichtigt und Befunde würden am Idealbild einer demokratischen Persönlichkeit gemessen. „Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Untersuchung langfristiger Trends in der politischen Kultur Jugendlicher ein komplexes Unterfangen ist, das Längsschnittdaten und den Vergleich verschiedener Altersgruppen und Jahrgangskohorten erfordert. Dies sollte für jeden, der mit empirischen Daten umgeht, eigentlich selbstverständlich sein, wird jedoch aus mehreren Gründen nicht immer beachtet. Einmal haben die meisten Forscher einen natürlichen Hang dazu, die Bedeutung ihrer empirischen Ergebnisse durch Dramatisierung zu unterstreichen. Zum anderen ist Jugendsoziologen und Pädagogen häufig ein normatives Verständnis ihrer wissenschaftlichen Arbeit eigen, so dass sie sich nicht mit der Erklärung empirischer Ergebnisse zufrieden geben, sondern ihre empirischen Ergebnisse immer auch unter dem Aspekt pädagogischen Interventionsbedarf interpretieren. Hierzu wird nicht selten die Öffentlichkeit gesucht, wo sie wiederum auf Journalisten treffen, die einerseits ein professionelles Interesse an dramatischen Resultaten haben, andererseits aber in der Regel nichts von empirischer Forschung verstehen und die von den Forschern angebotenen Interpretationen meist kritiklos übernehmen.“112

Analog muss das unter Umständen auch für politikwissenschaftliche Studien angenommen werden. Dementsprechend ist die konzeptionelle Grundlegung und die Durchdringung der kultursoziologischen Theorie als Gütesiegel einer Arbeit zu betrachten, anhand derer Ergebnisse und Prognosen der jeweiligen Arbeiten gemessen werden sollten.

1 Fenner 1998, S.565

2 a.a.O., S.569

3 Krober und Kluckhohn 1952, S.181

4 a.a.O., S.185

5 ebd., siehe dort insbesondere Fussnote Nr.55

6 a.a.O, S.135f (ACHTUNG, Verweisfehler. Verweis prüfen)

7 ebd.

8 Almond und Verba 1963, S.3

9 siehe a.a.O., S.6

10 a.a.O., S.13

11 ebd.

12 Siehe Kaase 1983, S.149

13 siehe a.a.O., S.151f

14 a.a.O., S.154

15 vgl. a.a.O., S.156

16 siehe a.a.O., S.146

17 Schwelling 2001, S.616

18 a.a.O., S.617

19 siehe Oermann 2001, S.113-135. Siehe dazu auch Langenbeck 1990 a.a.O. zu den „alten Motiven der Wert-Diskussion in Philosophie und Soziologie“, S.34-80

20 ebd.

21 siehe a.a.O., S.113

22 a.a.O., S.115

23 a.a.O., S.118

24 vgl. a.a.O., S.119

25 a.a.O., S.119. Ggf. lohnt sich hier ein Vergleich mit Theorien des Strukturalismus.

26 vgl. Westmeyer 1984, S.34

27 a.a.O., S.40

28 siehe Krieger 1984, S.45

29 siehe a.a.O., S.46ff

30 siehe Schaubild a.a.O., S.48

31 vgl. Schaubild a.a.O., S.52

32 siehe Langenbeck 1990, S.123

33 vgl. a.a.O, S.119ff

34 a.a.O., S.125

35 vgl. a.a.O., S.126

36 a.a.O., S.127

37 siehe Westmeyer 1984, S.34 mit dem dortigen Hinweis auf Klages 1977

38 Duncker 1998, S.18

39 vgl. ebd.

40 A.a.O., S.15f

41 Duncker 1998, S.18

42 Rokeach, M.: The Nature of Human Values. New York/ London 1973

43 Duncker 1998, S.18

44 siehe Schaubild a.a.O., S.19

45 ebd.

46 In diesem Zusammenhang wäre ein Rückgriff auf Talcott Parson interessant, demzufolge gerade Ideologie bestimmte Werte erhalten bleiben. Wenn also tatsächlich „ideologische Standpunkte“ überwunden oder ergänzt werden sein sollten, ist das unter Umständen auch ein Hinweis auf die Veränderung der „ideologischen Landschaft“; also der Hinweis auf die Veränderung des Diskurses unter dem Einfluß z.B. neuer Ideen oder Probleme, denen die alten Ideologien nicht gerecht werden. Auch hier ist dann die Frage nach Veränderung der kulturellen Muster im Sinne der Argumentation Schwellings interessant.

47 Siehe Hildebrandt und Dalton 1977, S.231

48 siehe a.a.O., S.236

49 ebd.

50 a.a.O., S.235

51 siehe a.a.O., S.249

52 vgl. a.a.O., S.236f

53 Inglehart 1977, S.22

54 ebd.

55 siehe Inglehart 1995, S.101

56 a.a.O., S.106

57 siehe Inglehart 1977, S.28

58 a.a.O., S.33

59 vgl. Inglehart 1995, S.104f

60 a.a.O., S.115

61 siehe Inglehart 1977, S.75

62 siehe a.a.O., S.79

63 siehe a.a.O., S.80

64 a.a.O., S.82

65 siehe a.a.O., S83

66 Hildebrandt und Dalton 1977, S.242

67 a.a.O., S.246

68 siehe Hildebrandt und Dalton, S.242

69 Duncker 1998, S.25; zitiert nach Klein 1995, S.213

70 ebd.; siehe in diesem Zusammenhang auch Hoffmann-Lange, Ursula: Der fragwürdige Beitrag von Jugendstudien zur Analyse von Trends. In: Merkens, Hans; Zinnecker, Jürgen (Hrsg.): Jahrbuch Jugendforschung. Siegen/Berlin 2001, S.187-210

71 siehe Klein 1995, S.211ff

72 Langenbeck 1990, S.140; zitiert nach Lehner, F. (1979): Die „stille Revolution“. Zur Theorie und Realität des Wertewandels in hochindustrialisierten Gesellschaften. In: Klages; Kmieciak (Hrsg) (1979): Wertewandel und gesellschaftlicher Wandel. Frankfurt a.M., S.320

73 Schaubild siehe Klages 1985, S.18

74 siehe Duncker 1998, S.26

75 Klages 1985, S.14

76 siehe a.a.O., S.14f

77 siehe a.a.O., S.12

78 vgl. a.a.O., S.26

79 siehe a.a.O., S.26ff

80 vgl. a.a.O., S.30

81 a.a.O., S.34

82 Langenbeck 1990, S.149f

83 a.a.O., S.151

84 siehe ebd.

85 Siehe a.a.O., S.152

86 siehe a.a.O., S.37

87 Langenbeck 1990, S.168

88 Inglehart 1977, S.293

89 siehe a.a.O., S.297. Inglehart verwendet hierfür den Begriff„Cognitive Mobilization“

90 siehe ebd.

91 a.a.O., S.295

92 vgl. a.a.O., S.300

93 a.a.O., S.301

94 siehe Hildebrandt und Dalton 1977, S.237

95 Inglehart 1977, S.301

96 siehe a.a.O., S.298f

97 siehe a.a.O., S.297

98 a.a.O., S.302

99 a.a.O., S.316

100 a.a.O., S.317

101 a.a.O., S.316

102 vgl. Schwelling 2001, S.619

103 vgl. ebd.

104 A.a.O., S.620. Betreffs einer solchen Unterscheidung voneinander unterschiedlicher “Wir-Gruppen” ist auch noch einmal Mannheim interessant, der Langenbeck zufolge Ideologie und Denkstandorte sozialer Gruppen an das Selbstbewusstsein einer Gruppe koppelt, das sich aus der gemeinsamen „Erlebnislage“ ergibt. Siehe Langenbeck 1990, S.117f

105 vgl. a.a.O. S.621

106 ebd.

107 a.a.O., S.616

108 a.a.O, S.620 mit einem Verweis auf Schütz und Luckmann 1975, S.264

109 In diesem Zusammenhang ist dann unter Umständen auch der Begriff der „neuen Mitte“ zu verstehen.

110 Kroeber und Kluckhohn 1952, S.186

111 Hoffmann-Lange 2001, S.187

112 a.a.O., S.193

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Ein Gedanke zu „Werte und kulturelles Wissen: zwei von vier Komponenten des Konzepts „politische Kultur“

  1. Plinubius

    @florian Der Aufsatz dürfte an Verständlichkeit beträchtlich gewinnen, wenn es gelänge, den allergrössten Teil der ausformulierten Verweise auf Autoren (Wie A sagt und B bestätigt, C aber anders sieht usw.) zu tilgen und es allein dadurch stark auf die Sache zu kürzen.

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