Am 15.09.2023 war ich als Vorstandsmitglied der Kultur- und Begegnungsstätte Hamburger Tor e.V. anlässlich des Demokratietags um 16:30 auf dem Obermarkt in Worms eingeladen eine kurze Rede zu halten und anschließend an einer Podiumsdiskussion teilzunehmen. Die Vorbereitung dazu begann im Juli. Mein Vorschlag damals lautete, politische Kultur als Wissen um soziale Technik zu diskutieren. Nachdem dies der Veranstalterin zu abstrakt erschienen war, habe ich vorgeschlagen, dies am Beispiel der Müllentsorgung zu verdeutlichen. Nachfolgend ist der Versuch einer schriftlichen Fassung auf der Basis meiner Vortragsnotizen, die ich am 15.09. verwendet habe. Diesen Beitrag habe ich erstmals am 16.09.2023 im Internetforum des Kreisverbands der Grünen in Worms veröffentlicht.
Inhalt der Rede
Ich bin Gründungs- und Vorstandsmitglied der Kultur- und Begegnungsstätte Hamburger Tor e.V. Das Hamburger Tor ist ein dritter Ort, der typischerweise für Nachbarschaftscafés, kleinere Konzerte, vor allem aber für Familienfeiern und Feste genutzt wird. Sie können diesen Raum gerne nutzen und finden die Buchungsmöglichkeiten auf unserer Webseite im Internet.
Indem sich Menschen begegnen, die ja vor allem aus der Nachbarschaft stammen, kommt man auch auf gemeinsame Themen. Zum Beispiel auf das Thema der Müllentsorgung. Müllentsorgung ist ein politisches Thema. Es betrifft alle. Es sind sehr viele verschiedene Akteure involviert. Nicht nur die Nachbarn selbst, vor allem die EBWO (Entsorgungs- und Baubetriebe Worms), die Stadtverwaltung, die Gremien vom Stadtrat über zuständige Ausschüsse wie den Innenstadtausschuss bis hin zum Aufsichtsrat der EBWO.
Das Beispiel Müll ist ein anschauliches Beispiel, um klar zu machen, wofür Parteien da sind.
Ich selbst bin nicht nur Vorstandsmitglied des Hamburger Tors. Ich bin auch Mitglied der Grünen. Es ist am Ende gleichgültig, bei welcher Partei Sie Mitglied sind. Wichtig ist, dass Sie an der politischen Arbeit teilhaben, die gemäß Artikel 21 des Grundgesetzes von den Parteien geleistet wird.
Die Müllentsorgung in unserer Innenstadt funktioniert nicht gut. Da die Anwohner in aller Regel nicht politisch organisiert sind, ist der Kampf gegen den Müll ein individueller Einzelkampf. Die Vorurteile schießen ins Kraut. Beschuldigungen sind schnell bei der Hand. („Die Ausländer sind schuld“ oder „Die EBWO ist schuld“ oder „Die Stadtverwaltung tut nix“). Es ist hoch politisch.
Die Unzufriedenheit ist groß. Jedem Einzelnen ist unklar, wer zuständig ist. Weder ist den vereinzelten Anwohnern klar, wer im Einzelnen den Müll verantwortet, noch ist klar, wer wann für dessen Entsorgung zuständig ist oder wer innerhalb der Stadtverwaltung dazu angesprochen werden müsste und mit welchen Reaktions- und Prozesszeiten dann zu rechnen ist. Vorhandene Informationen sind vielfach unzugänglich. Anrufe bei vermeintlich Zuständigen sind teils frustrierende Angelegenheiten. Und da der weit überwiegende Teil der Anwohner auch nicht politisch organisiert ist, haben sie auch keinen einfachen Zugang zu den Informationen, die den Mandatsträgern, den Ausschussmitgliedern, den Aufsichtsratsmitgliedern usw. zugänglich sind. Vice versa haben auch diese Leute keinen Zugang zu den Anwohnern, denn, wie gesagt, man ist ja politisch nicht organisiert. Man kennt sich nicht und steht in keiner lebendigen Beziehng. Eine in Worms gut besichtigbare Folge der Abwesenheit einer funktionierenden politischen Selbstberatung ist die Ratlosigkeit der Verwaltung.
Die Prozesse in dieser politischen Arena zu begleiten und mitzugestalten, dass kann ein Kulturverein nicht leisten. Dafür ist er nicht gemacht. Die Mitglieder des Kulturvereins stellen ja einen Raum für Begegnung und Nachbarschaftlichkeit zur Verfügung.
Eine Sache wie Müllentsorgung ist Sache politischer Vereine. Also Sache politischer Parteien. Sie organisieren den politischen Produktionsprozess, das Problem zu beschreiben, Lösungsmöglichkeiten zu finden, auf Entscheidungen in den Gremien hinzuwirken und darauf zu achten, dass die Verwaltung entsprechende Entscheidungen auch tatsächlich richtig umsetzt. Diesen Produktionsprozess nennt man auch „Politikzyklus“.
Unser aller Problem, dass will ich in aller Deutlichkeit sagen, ist, dass wir heute eine vollkommen falsche Vorstellung von Parteien haben. Wir denken da viel zu stark an abstrakte „Marken“, an „die SPD“, „die CDU“, die „FDP“, die „Linke“ oder auch an – hoho – „Die Grünen“. Ich bin übrigens Mitglied der Grünen.
Parteien organisieren den politischen Produktionsprozess. Und zwar sind es wir Bürger, die wir als Mitglieder von Parteien den Produktionsprozess leisten. Die Rekrutierung von „Politikern“ ist nur ein Nebeneffekt des inhaltlichen Produktionsprozesses. Weil wir uns um die Müllentsorgung als politischem Problem kümmern, wissen wir auch, wer als Mandatsträger geeignet sein könnte.
Wir haben als Bürgerinnen und Bürger unseres Landes aber wirklich ein Problem. Es macht keiner mit. Jeder einzelne von uns versteht auch nicht mehr die politischen Prozesse. Wir leisten zwar in unseren Berufen teils hoch komplexe Arbeit. Ein Mitarbeiter von Procter & Gamble hier in Worms versteht seinen Produktionsprozess sehr genau. Aber wir verstehen in aller Regel nicht die Prozessketten in unserer Demokratie.
Wir haben keinen Zugang zu Information. Und wir haben keinen effizienten Bearbeitungsprozess.
Unsere Unorganisiertheit begünstigt Andere.
Erstens begünstigt es die Interessen derjenigen, die in der Lage sind, sich auf unsere Kosten politisch ein Vorteil zu verschaffen. Und es begünstigt die Verwaltung bei der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen.
Was ist also zu tun?
Erstens: Denken Sie weiter, wenn Sie „Partei“ hören oder sagen. Verstehen Sie Parteiarbeit bitte als Informationsbeschaffungs- und Verarbeitungsprozess.
Zweitens: Sehen Sie Mandatsträger anders. Mandatsträger, Stadträte, Mitglieder des Landtags oder Bundestags, sind für Sie Informationsquelle und Partner bei der Umsetzung der Lösungen, die Sie erarbeitet haben. Und: Mandatsträger müssen Sie natürlich auch kontrollieren.
Drittens: Verstehen Sie ihre eigenen Rolle in diesem Prozess. Es kommt auf Sie an.
Das ist nämlich ganz wichtig, das am Demokratietag zu begreifen. Bitte geben Sie sich nicht der Illusion hin, sie würden bereits an unserer Demokratie teilnehmen, indem sie sich ehrenamtlich engagieren, ohne dabei Mitglied einer Partei zu sein. Die Beschreibung von Problemen, die Erarbeitung von Lösungen, die Umsetzung in politische Programme, die Auswahl und Kontrolle der Entscheider in den Gremien unserer Demokratie. Das alles geschieht in und durch politische Vereine, durch Parteien. Und wir lügen uns etwas in die Tasche, wenn wir uns weismachen, unsere Demokratie funktionierte, ohne dass wir uns mit Parteien befassen. Deshalb halte ich es auch für einen großen Fehler, dass heute und hier zum Demokratietag in Worms keine Parteien eingeladen worden sind, damit wir, damit Sie sie zum Funktionieren, zur Leistungsfähigkeit und zu den Inhalten ihrer Produktionsprozesse befragen können. Das ist nämlich auch wichtig zu verstehen: Es kommt nicht darauf an, was Parteien gewesen sind. Wir müssen uns fragen, wie wir in Zukunft Politik bearbeiten. Wir müssen anspruchsvoll werden. Und wir dürfen bezweifeln, dass wir da auf der Höhe der Zeit sind, wenn wir uns Parteien ansehen. In einer Zeit, in der wir zum Mars fliegen können, täglich mit unseren Smartphones Warenwirtschaftssysteme bedienen und Tesla fahren, da erwarte ich, da sollten Sie erwarten, dass die politischen Vereine als Infrastruktur mindestens genau so gut sind, um uns als Infrastruktur von Nutzen zu sein.
Es ist mir dabei egal, ob sie bei der Telekom, bei Vodafone oder bei O2 sind. Und genau so ist es auch mit Parteien. Betrachten Sie eine Partei als Plattform für ihren politischen Produktionsprozess und wechseln Sie den Anbieter, falls der politische Produktionsprozess kein Arbeiten ermöglicht und keine Ergebnisse erzeugt.