Bircken, Margrid: Victor Klemperers autobiografisches Schreiben. Zwischen Selbstdeutung und Chronistenzwang.

2007 habe ich die Tagebücher Victor Klemperers von 1933 bis Spätsommer 1945 gelesen. Durch die Auseinandersetzung mit der Kunst und Technik des Erzählens mittels des Neuen Funkkollegs des Hessischen Rundfunks und seines Begleitbandes, herausgegeben von Mentzer und Sonnenschein, bin ich für die Selbsterzählung als einer – wenn nicht der – Quelle des Erzählens sensibilisiert worden. Beim Packen von Umzugskisten bin ich nun auf das Sammelwerk von Siehr gestoßen, indem sich Margrid Bircken mit Klemperers autobiographischem Schreiben als solchem beschäftigt.

Inhalt

Bircken weist unter Berufung auf Klemperers Autobiographie Curriculum vitae darauf hin, dass Klemperer bereits seit seinem 16. Lebensjahr Tagebuch geschrieben hat. Dabei hat am Anfang die Sammlung von kleinen Geschichten und Beobachtungen gestanden, die in der Hoffnung gesammelt worden waren, sie schriftstellerisch verwenden zu können. Darüber sei Klemperer dann das Tagebuchschreiben zur Gewohnheit geworden:
„Ich musste mir über alles schriftliche Rechenschaft ablegen, sonst fehlte mir das Gefühl der Klarheit und sozusagen das Fertigsein mit meinen Erlebnissen.“ (S.191, zitiert nach Victor Klemperer: Curriculum Vitae. Berlin 1995, 1,6f)
Bircken weist darauf hin, dass Klemperer nie vorhatte, seine Tagebücher zu veröffentlichen. „Dagegen hat seine feste Auffassung gestanden, dass erst durch die bewusste Verknüpfung des Unverbunden-Zufälligen der Schreiber seinen Tagebuchnotizen Sinn geben und damit der Wahrheit genügen kann.“ (S.192f)

Bircken bringt Klemperers autobiographisches Schreiben mit der Erinnerungshandlung nach Wilhelm Dilthey in Verbindung. Nach Dilthey wird der Zusammenhang des eigenen Lebens erst in der Erinnerung sichtbar, wobei sich schon im Gedächtnis eine Auswahl vollzieht. Das Prinzip dieser Auswahl „liegt in der Bedeutung, welche die einzelnen Erlebnisse für das Verständnis des Zusammenhangs meines Lebensverlaufs damals, als sie vergangen waren, hatten.“ (S.193, eigene Hervorhebung, zitiert nach Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, zitiert nach Günter Niggl: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1998, S.21-32).

Bircken führt aus, dass Dilthey in der Selbstbiographie die „am meisten instruktive Form“ des Verstehens des Lebens sieht (siehe S.193) und Diltheys Schüler Georg Misch in der Autobiographie die Selbstausdeutung von Individuen erkennt, in der „die geschichtliche Wandlung des Menschen erkennbar wird“ (S.194). Dem entspricht Klemperer sowohl durch seine Arbeit als Literaturhistoriker als auch als Autobiograph, so Bircken weiter. Sie zitiert noch einmal Dithey: „Wohin wir blicken, arbeitet unser Bewusstsein, mit dem Leben fertig zu werden. Wir leiden an unseren Schicksalen wie an unserem Wesen, und so zwingen sie uns, uns verstehend mit ihnen abzufinden.“  (S.195, Dilthey a.a.O., S.24)

Klemperer sieht sein eigenes autobiographisches Schreiben skeptisch, weil er als Literaturhistoriker Sorge hat, sich von seinem literaturhistorischen Wissen inspirieren zu lassen und hierdurch nicht mehr eigentlich über sich selbst zu schreiben. (siehe S.195f)

Für Klemperer rückt seine Autobiographie erst in dem Augenblick in den Mittelpunkt seiner Arbeit, als ihm der Zugang zur Bibliothek verwehrt wird. In diesem Moment,
„in der Phase heraufziehender Kriegsgefahr und zunehmender Isolierung wird Schreiben über das eigene Leben zur Überlebensstrategie, der unerträglichen Gegenwart verschafft er durch die Erinnerung an die eigene Geschichte einen Resonanzboden.“ (S.197)

Die so entstandene Dokumentation des Zeitgeschehens ist Klemperers unnachgiebigen Arbeitseifer zu verdanken: „Beharrlich hatte der entlassene Romanist in den Jahren nach 1935 allen Widrigkeiten zum Trotz an seinen wissenschaftlichen Studien gearbeitet. […] Er glaubte, dass allen äußeren Eingriffen des politischen Systems zum Trotz sich der Wissenschaftler seine Forschungssphäre […] erhalten könnte. Dass man ihm schrittweise den Umgang mit den Büchern verbieten könnte, hat er sich nicht vorstellen können.“ (S.199)

Das Engagement Klemperers nach 1945 in der KPD interpretiert Bircken als Klemperers Verlangen, eine Rolle zu spielen. Bircken belegt, dass Klemperer bewusst ist, dass es sich beim Selbstentwurf darum handelt, eine Rolle spielen zu wollen. Sie weist daraufhin, dass „jede Art von Schreiben die Konstruktion einer Rolle ist“ (S.203, zitiert nach Walter Höllerer: Sind Tagebücher zeitgemäß? Walter Höllerer im Gespärch mit Elias Canetti, Max Frisch u.a. In: Sinn und Form Jg.49 (1997), H.6., S.773-790) und sie behauptet, dass auch Klemperer das gewusst hat.

Deutung

Klemperer hat mit dem Tagebuchschreiben als Materialsammlung begonnen. Dieses Sammeln und Niederschreiben wird dann zu einem Mechanismus, Klarheit zu schaffen und mit Erlebnissen fertig zu werden. Das gesammelte Material ergibt dabei erst Sinn, wenn der Autor das Unverbunden-Zufällige bewusst verknüpft. (vgl. hier meine Überlegung zu meinem Weblog, dass das von mir gesammelte Material erst durch die in der Sammlung enthaltenen Zusammenhänge wertvoll ist, wobei entscheidend ist, ob ich diese Zusammenhänge herstelle und ihre Herstellung öffentlich mache.) Bärbel Techtmeier weist im gleichen Band darauf hin, dass Klemperer in seinen Tagebüchern unsystematisch Material gesammelt hat, das er später zur Lingua tertii imperii (LTI) verarbeitet. (siehe S.14ff) Klemperers Tagebuchschreiben ist also eine Basisleistung, auf der er weitere Arbeiten gründen kann.

Dilthey weist darauf hin, dass die Auswahl erinnerter Erlebnisse davon abhängt, welche Bedeutung sie für die Zusammenhänge der Lebensgeschichte im Moment der Rückschau haben. In Anlehnung an Thomäs Erzähle Dich selbst kann ich also sagen, dass ich mich bei der Erzählung der eigenen Lebensgeschichte an solche Erlebnisse erinnere und solche Erlebnisse aneinanderreihe, denen die Erwartungen meines zuhörenden Gegenübers Bedeutung verleihen. Vor dem Hintergrund ein und desselben Lebens lassen sich widerspruchslos verschiedene Geschichten über mich selbst erzählen, die aneinander grenzen oder überlappen, ohne sich deshalb zu widersprechen oder erlogen sein zu müssen. Mit dem Umstand, in Anlehnung an sich selbst mehr als nur eine Geschichte erzählen zu können, ist augenscheinlich das Problem der Authentizität verbunden, also das Problem der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der eigenen Geschichte. Für das Selbst und das Gegenüber ist ein Geschichte zuverlässig, solange sie sich wiederholen lässt und dabei erkennbar gleich bleibt. Authentizität kann also durch die Festlegung auf eine der möglichen Geschichten hergestellt werden. Dies birgt jedoch das Risiko einer Verstärkung der ehedem gegebenen Pfadabhängigkeit des eigenen Lebens. Im Moment meines Entschlusses, mich als eine bestimmte Geschichte verbindlich festzulegen, laufe ich Gefahr, mich durch den bewussten Verzicht auf alternativ erzählbare Geschichten meines Selbst der Erinnerbarkeit dieser Alternativen zu berauben, zu dem Preis, an Anpassungsfähigkeit einzubüßen. Daraus folgt, dass sich Authentizität im Sinne einer Selbstfestlegung nicht mehr an einer Lebensgeschichte festmachen lässt, weil eine solche Selbstfestlegung angesichts des äußerst veränderlichen Charakters der Umwelt problematisch wäre. Identität und Authentizität klaffen jetzt auseinander. Denn in einer Welt, die aufgrund des technischen Fortschritts und der ökonomischen Verhältnisse durch Instabilität und Dynamik der Umwelt gekennzeichnet ist, bin ich als Individuum darauf angewiesen, meine Anpassungsfähigkeit zu erhalten, d.h. einen möglichst großen Vorrat erzählbarer Entwürfe meines Selbst vorzuhalten, um in jeder Situation, in die ich durch die sich verändernde Umwelt gerate, glaubwürdig eine Rolle spielen zu können. Die Identität, die „als Selbst erlebte innere Einheit der Person“ (Duden Fremdwörterbuch), kann deshalb nicht mehr einer durch Wiederholbarkeit glaubwürdigen eigenen Geschichte als einer Aneinanderreihung bestimmter Erlebnisse entsprechen. Die eigene Identität, die innere Einheit der Person, ist authentisch, also zuverlässig und glaubwürdig, solange es dem Ich gelingt, sich nicht als eine seiner Geschichten zu verstehen, sondern als der Erzähler dieser Geschichten, der um die Konsistenz der von ihm erzählten Selbstgeschichten und deren Wahrheitsgehalt bemüht ist. Damit ist zwar aus dem Blickwinkel des Selbst die Frage nach der Gründung der eigenen Authentizität befriedigend geklärt. Es stellt sich jedoch die Frage, wie sich diese Authentizität der eigenen Person durch das Gegenüber erkennen lässt – gerade dann, wenn es sich um standardisierte Prüfroutinen wie beispielsweise bei der Personalauswahl handelt, die ihre Einschätzung von Personen an den von dieser Person erzählten Ereignissen und ihrer Deutung dieser Ereignisse festmacht.

Bircken, Margrid: Victor Klemperers autobiografisches Schreiben. Zwischen Selbstdeutung und Chronistenzwang. In: Siehr, Karl-Heinz (Hg.): Victor Klemperers Werk. Texte und Materialien für Lehrer. Berlin 2001


zuerst veröffentlicht 09.02.2008