Essay zu einem Modell für gelingende politische Arbeit mit den zur Verfügung stehenden Mitteln eines Kreisverbands

Wie organisieren wir Parteiarbeit mit den vorhandenen Mitteln, um politisch etwas zu erreichen? Diese Frage haben wir im Workshop zu „Politikmanagement mit den Mitteln eines Kreisverbands“ am 26.01.2023 bearbeitet. Die Aufgabe ist, eine wirklich große Anzahl interessierter Menschen an einer gelingenden politischen Arbeit zu beteiligen. Wir betrachten dabei den Kreisverband Worms, in dessen Gebiet mehr als 5000 Personen an grüner Politik interessiert sind.

1. Personelle und technische Ressourcen

Aktuell sind im Kreisverband 112 Mitglieder organisiert1. Das ist eine kleine Gruppe2, führt man sich vor Augen, dass in Worms und seinen eingemeindeten Vororten rund 84.000 Menschen wohnen, 64.121 von ihnen wahlberechtigt. 2019 haben in der Kommunalwahl 32.643 davon ihre Stimme abgegeben – 5126 davon für die Grünen.3 Zum Vergleich: Alleine in den Bürgerinitiativen und Umweltverbänden, die den Grünen thematisch nahe stehen, sind schätzungsweise über 3000 als Mitglieder engagiert.

Aus dem Kreis seiner 112 Mitglieder entsendet der Kreisverband in den Stadtrat seit 2019 acht der 52 Mandatsträger*innen. Zusätzlich besetzt der Kreisverband 20 der rund 160 Ortsbeiratsmandate in den 13 Ortsbeiräten der eingemeindeten Ortsteile4. Inhaltlich werden diese Mandatsträger*innen von Arbeitskreisen des Kreisverbands flankiert, an denen sich jede/r Interessierte aus der Mitgliederschaft beteiligen kann. Aktuell gibt es sechs Arbeitskreise, an denen teils 20 und mehr Personen mitwirken. Organisiert wird der Kreisverband von weniger als 10 Vorstandsmitgliedern. Alle diese Personen sind ehrenamtlich in ihrer Freizeit aktiv, sodass die Arbeitskapazität in Stunden verglichen beispielsweise mit der Kapazität der obersten drei Ebenen der Stadtverwaltung verschwindend gering ist. Sie fällt sogar noch geringer aus, wenn man sich überlegt, dass ja in der Regel in der Stadtratsfraktion, dem Vorstand und den Arbeitskreisen mehrere Personen am gleichen Thema arbeiten.5

Diesem Besatz steht eine sehr leistungsfähige digitale Infrastruktur zur Verfügung, die von der Bundespartei sowie von einem mit der Bundespartei vertraglich verbundenen IT-Dienstleister, der Verdigado eG, und einem Verein, der Netzbegrünung e.V., getragen wird. Hinzu kommen die Möglichkeiten der „sozialen Medien“ und Messengerdienste, die nicht in der Hand der Partei liegen, sowie weitere zugekaufte softwarebasierte Leistungen, wie bspw. Newsletterversandanbieter.

Die Infrastruktur alleine macht jedoch noch keinen Arbeitsprozess. Es bedarf eines gemeinsamen Verständnis der Arbeitsweisen und Prozesse, um die Beteiligungsmaschine Bündnis 90 / Die Grünen zum Laufen zu bringen und am Laufen zu halten.

2. Parteiarbeit als Informationsbeschaffung und -verarbeitung

Die Herausforderung, der sich die acht grünen Stadtratsmitglieder, die übrigen 104 Parteimitglieder und auch die rund 3000 zivilgesellschaftlich engagierten Personen gegenübersehen, ist, mit der Fülle an Inhalten und Problemstellungen Schritt zu halten.

Wie jede Partei und jede Bürgerinitiative sind auch Bündnis 90 / Die Grünen deshalb zu aller erst ein Informationsbeschaffungs- und Verarbeitungsverein. Parteiarbeit bedeutet, in jedem Themenfeld entlang des Politikzyklus Themen zu erkennen, Probleme aufzuzeigen, Entscheidungsoptionen zu formulieren und die Umsetzung einmal in Ortsbeirat und Stadtrat gefällter Entscheidungen kritisch zu begleiten. Dass heißt, das Handeln der Stadtverwaltung (oder stadteigener Unternehmen oder sonstiger zuständiger Behörden) und dessen Effekte zu beobachten, auch daraus neu entstehende Probleme zu formulieren und Entscheidungshandeln des Stadtrats und der Bürgermeister einzufordern. Parteiarbeit beinhaltet dadurch Öffentlichkeitsarbeit, weil sie die allgemeinen Öffentlichkeit informiert6.

Eine Ahnung, wie vielfältig diese Aufgabenstellung ausfällt, erhält man, wenn man sich im Gremieninformationssystem der Stadt Worms alleine die (auch dort noch immer unvollständige) Liste der Gremien und Ausschüsse der Stadt Worms und der Stadt Worms Beteiligungs GmbH ansieht7.

Da eine Stadtverwaltung zudem eine große Menge sogenannter Pflichtaufgaben erfüllt, wie etwa die Verwaltung von Sozialleistungen, den Vollzug des Ausländerrechts, uvm. – staatlicher Aufgaben, die durch Landes- oder Bundesgesetze vorgeschrieben sind und gar nicht der Entscheidung oder Aufsicht des Stadtrats unterliegen – ist es in vielerlei Hinsicht gar nicht an den Stadträten, sondern an den Mitgliedern und Aktivbürger*innenn, diese landes- und bundespolitischen Themen zu beobachten, zu problematisieren, notwendige und mögliche Lösungen zu formulieren und von den entsprechenden Gremien Entscheidungen einzufordern, in die sie im übrigen zusätzliches Personal in Form von Landtags- und Bundestagsabgeordneten entsenden (können).8

3. Rekrutierung als Nebeneffekt der Parteiarbeit

Angesichts der Breite der politischen Themen und Handlungsfelder sind die Mitglieder und Aktivbürger*innen thematisch immer wesentlich breiter aufgestellt, als die Mitglieder des Stadtrats in ihrem vergleichsweise engen Zuständigkeitsbereich.

Die Rekrutierung von Unterstützern, Mitgliedern und Personen, die man als Delegierte in Gremien entsenden oder in Wahlen als Kandidat*innen aufstellen kann, ist ein Nebeneffekt dieses Informationsbeschaffungs- und Verarbeitungsprozesses. Der politische Verein wählt vor allem aus dem Pool der Personen aus, die sich erst durch ihre Teilhabe an der Informationsbeschaffung und -Verarbeitung finden lassen und sich darin hervortun.

Insofern kommt der Organisation und dem Funktionieren der Parteiarbeit als Informationsbeschaffungs- und Verarbeitungsprozess größere Bedeutung zu, als der Auswahl von Personal. Erstens fällt ohne funktionierende Parteiarbeit auch die Personalauswahl eher schwach aus. Zweitens hängt die Leistung der Delegierten und Mandatsträger*innen unmittelbar von der Arbeitskapazität, Qualität und Zuarbeit der sie tragenden Parteiarbeit ab. Drittens werden sie unweigerlich anfällig für die Einflussnahme durch Träger partikularer Interessen, zu denen auch die Eigeninteressen der Stadtverwaltung zählen, wenn sie nicht auf eine funktionierende Parteiarbeit zurückgreifen können und durch Parteiarbeit in ihrer Arbeit als Mandatsträger*innen kontrolliert werden.

4. Entwurf eines Arbeitsprozesses

Es liegt klar auf der Hand, dass die Zusammenarbeit in dieser kontinuierlichen Informationsbeschaffung und Verarbeitung weder mit einer WhatsApp- oder Signalgruppe, noch mit einem Email-Newsletter oder einer Facebook-Seite allein zu machen ist, wenn man darin die Arbeitskraftressourcen von Hunderten oder gar Tausenden von Menschen für einen arbeitsteiligen Prozess erschließen möchte. Auch zwei- oder vierwöchentlich stattfindende Fraktions-, Vorstands- oder Arbeitskreissitzungen haben da deutlich erkennbare Leistungsgrenzen.

Bündnis 90 / Die Grünen verfügen jedoch mit dem „grünen Netz“ über eine der leistungsfähigsten und modernsten digitalen Infrastrukturen aller Parteien der Bundesrepublik. Richtig eingesetzt ermöglicht es diese digitale Infrastruktur, eine sehr große Anzahl an Personen produktiv in die Parteiarbeit einzubeziehen und ein nie dagewesenes Qualitätsniveau politischer Beteiligung zu erreichen, selbst wenn die meisten Personen monatlich nur wenige Minuten oder wenige Stunden ihrer Zeit zur Verfügung stellen können.

Indem Mandatsträger*innen an Sitzungen des Stadtrats, an Ausschüssen des Stadtrats und an Sitzungen der Aufsichtsgremien städtischer Unternehmen und Kommunalverbände teilnehmen, erlangen sie Einblick in verschiedenste Themenfelder. Zugleich haben sie privilegierten Zugang zu Informationen der Stadtverwaltung. Einerseits, weil die Stadtverwaltung sie selbstständig durch Beschlussvorlagen informiert. Andererseits, weil sie durch ihr Antragsrecht ausdrücklich Stellungnahmen der Stadtverwaltung einfordern können. Mandatsträger*innen im Stadtrat sind Informationsquellen, aus denen sich die Mitglieder über kommunale Themen, Problemstellungen und Lösungsmöglichkeiten informieren. Mit einiger Wahrscheinlichkeit können Mandatsträger*innen diese Informationsarbeit nicht alleine bewältigen. Die Zahl der Themen, der Umfang der Auskünfte und Beschlussvorlagen – teils mehrere hunderte Seiten stark – und mithin immer auch im Raum stehende Versuch der Träger partikularer Interessen, auf die Mandatsträger*innen Einfluß zu nehmen, kann nichts geringeres als eine Überforderung sein, vor allem auch, weil kommunale Mandatsträger*innen ja lediglich ehrenamtlich und ohne weiteres Personal arbeiten.9 Es bedarf daher einer regelmäßigen Rückkoppelung mit dem Vorstand und den Arbeitskreisen, um aufkommende Themen zu priorisieren und dem Prozess der Parteiarbeit zuzuführen.

Unsere im Workshop am 26.01.2023 entstandene Idee ist es deshalb, der Informationsfunktion der Parteiarbeit gerecht werden zu können, indem es zu jedem Stadtratsausschuss einen Arbeitskreis gibt, um die in diesem Ausschuss geführte Diskussion in einem mitgliederöffentlichen Forum inhaltlich zu erschließen. Dazu muss man sich von der Vorstellung verabschieden, ein Arbeitskreis sei eine Gruppe von Personen, die sich zu Arbeitskreissitzungen trifft. Dies ist naturgemäß nicht leistbar. Weder haben wir genügend Mitglieder, die Gründung einer entsprechend großen Zahl an Arbeitskreisen von Personal abhängig zu machen, noch haben die Mitglieder ausreichend viele Abende zur Verfügung, sich der Vielheit der Ausschüsse und Themen in Sitzungen zu widmen10.

Arbeitskreise existieren nach unserer Vorstellung vielmehr nicht durch interessierte Mitglieder, die sich zu Arbeitskreisen zusammenfinden, sondern durch die unabhängig vom Vorhandensein von Personal gegebenen Themen und verfügbar werdenden Materialien. Es gibt sie also aus informationeller Sicht bereits „blanko“, d.h. auch ohne Personal. Werden Arbeitskreise als digitale Infrastruktur blanko angelegt, hat dies den Vorteil, dass einzelne Personen, die sich für ein Themenfeld interessieren oder zu seiner Bearbeitung beitragen können, von den initialen Kosten entlastet sind, einen Arbeitskreis „einzurichten“. Sie können den Faden statt dessen sofort da aufnehmen, wo er gerade ist, und sich beteiligen, wann immer sich die Gelegenheit bietet.

Die Einrichtung eines Arbeitskreises beginnt mit der mitgliederöffentlichen, prozessorientierten Ablage11 verfügbar werdenden Materials. Die Ablage erfolgt nach einem einheitlichen Aktenplan12 in der „Grünen Wolke“13, des auf Nextcloud basierten Cloud-Systems des „Grünen Netzes“. Abgelegt werden können Ausschussdokumente, Ausschnitte aus der Presse, Bild- und sonstiges Material, wie bspw. Studien, Emails, gescannte Korrespondenz und vieles mehr. Die grüne Wolke macht es möglich, verfügbares Material fallweise öffentlich zu machen, indem auf den Internetseiten und dem Newsletter des Kreisverbands sowie in Social Media Beiträgen auf die durch die Parteiarbeit verfügbar werdenden Materialien verlinkt wird. Dadurch lässt sich zwischen der Fraktionsarbeit über die Arbeitskreise bis hinein in die Öffentlichkeit der städtischen Aktivbürger*innen eine Informationskette bilden. Neben solchen Materialien, gegen deren öffentliche Verfügbarmachung nichts einzuwenden ist, lassen sich im weiteren mitgliederöffentlich Antragstexte und Antragstextentwürfe, aber auch Sitzungsprotokolle ablegen.

Im weiteren lässt sich für jeden Arbeitskreis ein Internetforum einrichten. Hierfür bietet sich ein Discourse-Forum an, das aus unterschiedlichen formalen wie funktionalen Gründen dem RocketChat „Chatbegrünung“ überlegen sein dürfte.14 Ein solches Internetforum ist grundsätzlich zugänglicher und weniger zeitkostenintensiv, als eine Arbeitskreissitzung. Jede*r Interessierte kann sich hier spontan beteiligen, mitlesen, mitdiskutieren und auf diesem Wege weiteres Material zum Thema verfügbar machen. Auch lässt sich hier direkt auf Material verlinken, das in der Grünen Wolke abgelegt wird.

Internetforen sind von vornherein aus mehreren Gründen leistungsfähiger als Mailinglisten, wie sie aktuell im Kreisverband gepflegt werden.15 Sie sind dauerhaft online verfügbar, volltextlich durchsuchbar und es lässt sich auf einzelne Textbeiträge direkt verlinken. Vor allem lassen sich dort ausführliche und differenzierte Diskussionen führen, ohne durch den Versand von immer neuen Emails die Postfächer der Arbeitskreismitglieder zu überfrachten. In dieser Hinsicht sind sie auch bedeutend leistungsfähiger als Gruppen innerhalb von Messengerdiensten, weil sich die Diskussionen in Gedankenfäden (Englisch: „Threads“) gliedern. Im weiteren sind sie besser zugänglich, als Mailinglisten, da sie mitgliederöffentlich sichtbar und zugänglich gehalten werden können, ohne dass der Zugang für Interessierte zwingend von einer Verwaltung durch einen Mailinglisten-Administrator abhängig ist.

Besitzt ein Arbeitskreis eine ausreichend große Anzahl regelmäßiger Teilnehmer*innen oder ist ein Thema zumindest temporär ausreichend relevant, bietet sich die Durchführung einer Arbeitskreissitzung als virtuelle, hybride oder in Präsenz durchgeführte Versammlung als Fortsetzung der bis dahin asynchron online geführten Diskussion an. Dies kann für eine Aussprache, für eine Koordination oder für eine Beschlussfassung sinnvoll sein. Arbeitskreissitzungen schließen an eine online begonnene Diskussion an, sind aber für die Existenz einesArbeitskreises nicht zwingend notwendig.

Durch das Ablegen und Verfügbarmachen von Material auf der einen und durch die solchermaßen informierte, kontinuierliche Diskussion auf der anderen Seite wird die Beobachtung der Politik produktiv. Die informierte und orientierte Mitgliederschaft kann nun die Aufmerksamkeit sowohl der allgemeinen Öffentlichkeit, als auch der Mandatsträger*innen auf die Formulierung von Problemen, Lösungsmöglichkeiten und Entscheidungsoptionen lenken. Die Prägung des Diskurses und die Deutungshoheit über Themen und Argumente liegt nicht mehr nur bei Einzelpersonen, bei Mandats*trägerinnen oder den sie im ungünstigeren Fall von außen beeinflussenden Trägern von Interessen, wie etwa der Stadtverwaltung oder interessierter Zirkel, sondern potentiell bei der vergleichsweise größeren Gruppe der Diskutierenden innerhalb der Partei.

Die informierte und kontinuierliche Diskussion eines Arbeitskreises beinhaltet auch die Beobachtung und Reflektion des Verhaltens der Mandatsträger*innen selbst, die von den Arbeitskreisen zu Aktionen wie etwa dem Stellen von Anträgen angehalten oder zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten motiviert werden. Im Idealfall bilden die Mandatsträger*innen und die Arbeitskreise produktive Arbeitsgemeinschaften, die von den Mandatsträger*innen als Beratung und Arbeitsunterstützung genutzt werden. Diese Arbeitsbeziehung besitzt jedoch auch eine Kontrollfunktion. Denn die Arbeitskreise sind auch für die Aufstellung von Wahllisten relevant, weil sie um fähige Personen wissen. Im Falle eines mit dem Wahlprogramm, den Parteibeschlüssen und den Arbeitskreisempfehlungen im Widerspruch stehenden Verhaltens von Mandatsträger*innen leisten sie durch Kritik eine entsprechende Qualitätssicherung und tragen bei der Neu- und Wiederaufstellung von Wahllisten und Kandidaten zu informierten Entscheidungen der Mitgliederschaft bei.

5. Wirksame Beteiligung als Vorteil im politischen Wettbewerb

Durch das gemeinsame verfügbar machen von Material in der grünen Wolke und durch die Ermöglichung einer kontinuierlichen Diskussion jenseits von Sitzungsterminen in einem Internetforum steigt dramatisch die Kapazität, Personen in den Informations- und Diskussionsprozess einzubeziehen. Kaum irgendwo sonst kann eine Partei ihren grundgesetzlichen Auftrag gemäß §21 Absatz 116 des Grundgesetzes besser verwirklichen, an der politischen Willensbildung mitzuwirken.

Sie ist dabei von den Diskussionen bspw. in den auch für Worms auffindbaren Facebook-Gruppen verschieden, weil sie sich als direkte Zusammenarbeit mit Mandatsträger*innen und Delegierten versteht und ihr Sinn die Mitwirkung am politischen Prozess ist, statt ihn lediglich ohnmächtig aus der Entfernung zu kommentieren, wobei sie dafür über eine eigene, von Internetkonzernen unabhängige digitale Infrastruktur und entsprechend sichere digitale und reale Orte verfügt.

Eine auf Beteiligung ausgerichtete Parteiarbeit, wie wir sie hier beschreiben, stellt deshalb auch einen Vorteil im politischen Wettbewerb dar. Denn sie ist für die Aktivbürger*innen attraktiv aufgrund ihrer Informationsleistung, Zugänglichkeit und erlebbaren Selbstwirksamkeit.

Die Informationsleistung stellt einen individuellen Nutzen für die sich beteiligende Einzelperson dar, die durch ihre Beteiligung mehr erfährt über das Geschehen, dessen Hintergründe und dessen Entwicklungsoptionen. Durch das Ziel der Arbeitskreise, eine auf einem gemeinsamen Archiv aufbauende Diskussion zu führen, entsteht ein bedeutend vollständigeres und zusammenhängenderes Bild der Ereignisse und Informationen, als etwa durch die Lektüre ereignishaft-unverbundener Darstellungen in der Zeitung oder in den sozialen Medien. Jede einzelne Person kann in den Arbeitskreisen Zugänglichkeit, Wertschätzung und eigene Handlungsoptionen erleben17, indem die selbst eingebrachte Informationsleistung für Andere und den gesamten politischen Prozess nutzen stiftet. Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit im politischen Prozess reicht vom Erlebnis des eigenen Beitrags zur Diskussion über die Möglichkeit eigenen Handelns in politischer Aktion bis hin zur Möglichkeit (und Zumutung) der eigenen Kandidatur .

Nicht unterschätzen sollte man den politischen Wettbewerbsvorteil, der sich aus unserem Arbeitsprozess ergibt, weil die Beteiligungschancen in anderen Parteien womöglich schwächer ausfallen. Das kann daran liegen, dass diese über keine entsprechende digitale Infrastruktur verfügen sowie noch immer stark an einer an Sitzungen und Einzelpersonen ausgerichteten Arbeitsweise festhalten, deren Informationsleistung und Zugänglichkeit entsprechend geringer ist.

Bündnis 90 / Die Grünen erleben nicht nur Zuwachs, weil sie die richtigen Themen unserer Zeit bearbeiten. Aus den genannten Gründen gelingt auch die Rekrutierung besser. Das wirkt auch auf den politischen Wettbewerb. Denn wenn die Aktivbürger*innen in Arbeitskreisen der Grünen Politik formulieren, erringen sie mit den dort entstehenden guten Ideen und interessanten Analysen im Sinne eines „Vorsprung durch Tischvorlage“ auch beim politischen Partner oder politischen Gegner Diskursmacht und Einfluss.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Beteiligungsverständnis der Stadtverwaltung. Auf den Internetseiten der Stadtverwaltung finden die Parteien als Informationsbeschaffungs- und Verarbeitungsvereine politischer Information keine Erwähnung. Beteiligung zerfällt in der Navigation auf den Internetseiten der Stadt in den Bereich der Gremien und Wahlen18 einerseits und in den Bereich der „Bürgerbeteiligung“19 andererseits. Auf die in den Gremien durch die Mandatsträger vertreten Parteien als den originären Orten politischer Beteiligung wird noch nicht einmal verlinkt. Als Möglichkeit zur Beteiligung wird nur die Bürgerbeteiligung angeboten. Bei dieser handelt es sich aber nicht um eine ständige Selbstberatung von Bürgern zu politischen Fragen die Stadt betreffend, sondern um die anlassbezogene Einbeziehung von Bürgern zur Ausgestaltung kommunaler Projekte, über die im Zuge der politischen Beteiligung grundsätzlich bereits entschieden ist, die im Rahmen der Projektdefinition dann auch nur vordefinierte Spielräume eröffnen und in deren Zusammenhang keinerlei Initiativmöglichkeiten für Bürger existieren. Denn diese sind Sache der politischen Beteiligung.

6. Bedeutung der Richtlinienkompetenz

So effizient der politische Beteiligungsprozess mit den Mitteln der Parteiarbeit auch werden mag, man sollte sich hüten zu glauben, man könne die Sachkompetenz der Verwaltung und der von ihr beauftragten Beratungs- und Dienstleistungsunternehmen ersetzen. Das Ziel sollte es sein, glaubwürdig und emanzipiert ein Gespräch auf Augenhöhe führen zu können. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zwischen Sach- und Richtlinienkompetenz zu unterscheiden.

Es ist ein beliebtes Spiel der politischen Opposition und der Exekutive, das Mitspracherecht abzustreiten, indem man jemandem die Sachkompetenz abspricht. Man darf sich deshalb im Rahmen der Parteiarbeit nicht in die Sachkompetenzfalle locken lassen.

Da es in der Politik um kollektiv verbindliche Entscheidungen und um das Handeln der Verwaltung geht, das alle Bürger*innen gleichermaßen betrifft, gebührt den Bürger*innen und ihren Repräsentant*innen in jedem Fall die Richtlinienkompetenz. Sie ist aber nicht nur ein hoheitliches Recht. Als Kompetenz muss sie auch erworben werden. Das Auffinden des geeigneten Maß, die Definition der Richtlinie, entsteht aus der Diskussion der konkreten Themen, Probleme und Aufgabenstellungen. Beschriebene Lösungsmöglichkeiten müssen nicht notwendigerweise bis ins letzte Details durchdacht worden sein. Da die Verwaltung und politische Gegner politische Maßgaben aber am liebsten mit dem Argument fehlender Machbarkeit ablehnen, müssen sich Bürger zwangsläufig in dem Maße sachkundig machen, wie es notwendig wird, die Behauptung der Unmöglichkeit sachlicher und finanzieller Machbarkeit widerlegen und den Weg zum Machbaren aufzeigen zu können.20 In diesem Zusammenhang dürfen die Bürger aber nicht in die Falle tappen, sich in das Feld der Sachkompetenz locken zu lassen, um dann hier in nicht enden wollenden, detailversessenen und taktisch möglicherweise ins Leere laufenden Beteiligungsverfahren kaltgestellt zu werden.21

Die Richtlinienkompetenz gilt vor allem für die Bewertung von Politik und Verwaltungshandeln. Die Kontrolle des Verwaltungshandelns orientiert sich am politischen Willen, der in Parteiprogrammen und Anträgen als Richtlinie zum Ausdruck kommt. Die Organisation von Protest im Falle des Nichthandelns, des unvollständigen Handelns oder des schädlichen Handelns der Verwaltung setzt keine Sachkompetenz voraus, sondern bloß die Kenntnis der Diskrepanz zwischen der beschlossenen Richtlinie und der beobachteten Wirklichkeit des Verwaltungshandelns.

7. Parteiarbeit als Scharnier zwischen Mandatsträger*innen und Aktivbürger*innen

In den vergangenen dreißig Jahren ist der Rückzug ins Private und das bloß zivilgesellschaftliche Engagement jenseits der Parteien zur Norm geworden. Das aber dürfte sich jetzt verändern und man kann genau darauf vorbereitet sein.

Wie an den eingangs erwähnten Mitglieder- und Aktivbürger*innenzahlen deutlich wird, ist der weit überwiegende Teil der Aktivbürger*innen nicht parteipolitisch aktiv. Die Autoren vermuten, dass das auf die Individualisierung zurückgeht, deren Vorzug darin besteht, bequemer Weise keine Konflikte austragen zu müssen und sich gleichzeitig stets auf der moralisch überlegenen Seite zu wähnen. Möglich wird das aber nur, solange eine wohlfahrtsstaatliche Gesellschaft und ihre funktionierenden Institutionen uns zuverlässig und individuell den Rücken frei halten.

Diese wohlige Zeit liegt leider hinter uns.

Die Attitüde der rund 3000 nicht politisch bei den Grünen organisierten Aktivbürger*innenn, sich den Pelz waschen lassen zu wollen, ohne sich dabei nass machen zu müssen, hat lediglich zur Folge, dass die in ihrem Sinne geleistete politische Arbeit inhaltlich schwächer ausfällt, als sie, die Aktivbürger*innen, sich das im Detail wünschen22, und es bei der Personalauswahl zu ihrem Schaden an Wettbewerb mangelt.

Die mannigfachen Entwicklungsprobleme der Stadt Worms und das Vollzugsdefizit der Verwaltung, Beschlüsse des Rats umsetzen, legen davon vielfach Zeugnis ab. Zunehmend mehr Bürger sehen sich als Schüler, Auszubildende, Studierende, Eltern, Alte, Kranke, Zugewanderte, Erwerbstätige, Pendler, Sportler, Umwelt- und Klimaschützer und noch in vielen anderen Rollen in einer schwierigen Situation, die sich zunehmend häufiger auf Unterlassungen, Fehlleistungen und antiquierten Prioritäten auch lokaler Politik und lokalen Verwaltungshandelns zurückführen lassen. An allen Ecken und Enden ist das Vakuum an pragmatischen Konzepten, tatkräftigen Personen und entschlossenem Handeln mit Händen greifbar. Nicht nur Landes- und Bundespolitiker, vor allem auch Stadträt*innen und Beigeordnete erscheinen nicht selten überfordert, uninformiert, unentschlossen, manchmal selbstverliebt und in ihrem Nicht-Handeln voller wohlfeiler, letztlich nur ärgerlicher Begründungen.

Aktivbürger*innen erleben sich seit Jahren als engagiert in Beiräten und Jour-Fixes der Stadtverwaltung wie auch in Bürgerbeteiligungsverfahren, wo sie treu und brav ihre Ideen vortragen, nur um dann ein ums andere Mal staunend zu beobachten, wie ihre Eingaben beim tatsächlichen Verwaltungshandeln ignoriert werden. Der Rückzug ins Private, das Zelebrieren einer offen zur Schau getragenen „Politikverdrossenheit“, ist aber auch keine Lösung mehr, weil der Spielraum für einen „Rückzug“ schwindet und die Situation nicht mehr länger eine Frage des Komforts und der persönlichen Selbstentfaltung ist, sondern sehr konkret auf die eigenen Kinder, die eigenen Eltern, den eigenen Schulbesuch, den eigenen Erwerb, den Wohnwert der eigenen Nachbarschaft und den Wert der eigenen Immobilie oder den Mietpreis der eigenen Wohnung, das Klima und die Umwelt wirkt.

Was an sein Ende kommt, ist die Unentschlossenheit, sich persönlich aussetzen und mitmischen zu wollen. Das bloße Zuschauen hat ein Ende. Protestwahlen sind nur das eine, hilflosere Ende dieser Entwicklung. Politisch zudringlich zu werden und es mit der Beteiligung ernst zu meinen das Klügere. In dem Maße, wie die Protestwahl wächst, dürfte auch das Potential wachsen, als Bürger das denkbar Radikalste zu tun: Parteiarbeit zu leisten. Dafür aber gilt es, Parteiarbeit als entsprechend zugänglichen Prozess einzurichten.

Damit verändern sich notwendig auch die Selbstverständnisse von Mandatsträger*innen, Aktivbürger*innenn und Parteivorstandsmitgliedern. Wer als Stadträt*in glaubt, er oder sie könne all die zu leistende Informationsarbeit ohne ein Hinterland funktionierender Parteiarbeit aus sich selbst schöpfen, irrt. Angesichts der Breite der Themen ist Hilfe nur von einer in Arbeitskreisen organisierten Parteiarbeit zu erwarten, deren Mitwirkende Inhalte erarbeiten, Antragsentwürfe zuarbeiten, die Antworten der Stadtverwaltung aufnehmen, öffentlich zugänglich dokumentieren und nachhalten. Wenn also eine Person, die in einem den Grünen nahe stehenden Verband organisiert ist, der grünen Stadtratsfraktion den Vorschlag macht, das Schreiben von Anträgen im Themenfeld des Verbands zu übernehmen, so ist das kein übergriffiges Verhalten, sondern die genau richtige und zeitgemäße Intuition. Mandatsträger*innen und Partei haben de facto keine ausreichenden Ressourcen, das in allen Themenfeldern in adäquatem Umfang zu tun.

Und dann ist es nur formrichtig und konsequent, wenn diese Person dann auch Mitglied der Grünen wird. Denn andernfalls wäre sie ja bloße Trittbrettfahrerin, die sich nicht an den Unterhalts- und Organisationskosten der Partei beteiligt, zu denen auch die Aufwände der Rekrutierung und die Kosten der Kontrolle der Mandatsträger zählen. Oder anders: Ohne Parteimitglied zu sein ist man als Aktivbürger*innen in der gleichen ohnmächtigen Situation wie im unverbindlichen Beirat der Stadtverwaltung. Man wird freundlich behandelt, hat aber weder Kontrolle über das tatsächliche Handeln, noch über die Personalauswahl, noch kann man sich selbst zur Wahl stellen und das Heft des Handelns ergreifen.

Sich rauszuhalten ist nicht klug. Es ist peinlich. Im Sinne des Wortes schmerzhaft. Aber man hat die Wahl zwischen der Pein, sich rauszuhalten oder der Pein, sich einzumischen. Letztere ist ein Wohlschmerz.

1 Stand 25.02.2023

2 Zur Wahrheit gehört auch, dass sich die Zahl der Mitglieder in den vergangenen 5 Jahren verdoppelt hat

3 Endgültiges Ergebnis der Stadtratswahl 2019, https://www.wahlen.rlp.de/de/kw/wahlen//kk/ergebnisse/3190000000.html, abgerufen am 19.02.2023

4 Bevölkerung und politische Repräsentation in Worms, eigene Darstellung siehe https://wolke.netzbegruenung.de/s/LzbBtBJkexeKGZK

5 Die ehedem geringe Arbeitskapazität wird nochmals erheblich geschwächt, sobald unumsichtiges Verhalten einiger weniger durch unnötige, teils persönlich gefärbte Konflikte die Bereitschaft zur Mitarbeit senken oder Zeitressourcen durch Konfliktbearbeitung binden

6 Durch den Verlust der Werbeanzeigenbudgets lokaler Zeitungen schwindet die Leistungsfähigkeit der lokalen Zeitungen, diese Informationsfunktion zu bewältigen. Dieser Wandel ist auch in Worms erlebbar, worauf Parteiarbeit reagieren muss.

7 Gremieninformationssystem der Stadt Worms, https://worms.gremien.info/bodies.php, abgerufen am 19.02.2023

8 Hinzu kommen noch weitere 20% staatlicher Aufgaben, die überhaupt nicht durch kommunales Handeln bearbeitet werden. Siehe Bogumil, Jörg; Holtkam, Lars: Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung. Eine praxisorientierte Einführung. Bonn 2013

9 In diesem Zusammenhang gibt es Überlegungen, aus Einnahmen einer Mandatsträger*innenabgabe eine bezahlte Kraft als Unterstützung der Mandatsträger*innen zu beschäftigen

10 Oscar Wilde wird das Zitat zugeschrieben, der Sozialismus sei eine schöne Idee, koste aber zu viele Abende.

11 Vgl. Steinbrecher, Wolf; Müll-Schnurr, Martina: Prozessorientierte Ablage. Dokumenten-Managementprojekte zum Erfolg führen. 2., überarb. u. erw. Aufl. 2010

12 Vorlage für eine einheitliche Ordnerstruktur für Arbeitskreise siehe https://wolke.netzbegruenung.de/s/QrGjaDXPRb9xMpL

13 https://wolke.netzbegruenung.de

14 Siehe https://discourse.netzbegruenung.de/. Das Discourse-Forum ist direkt dem Bundesvorstand unterstellt, während der RocketChat-basierte Online-Dienst „Chatbegrünung“ unter https://chatbegruenung.de/ von Verdigado eG bereitgestellt wird, wobei es vertragliche Unklarheiten zwischen Partei und Verdigado zu geben scheint. Beide Foren können sowohl über den Browser, als auch per Smartphone-App genutzt werden. Siehe für eine weiterführende Erläuterung auch „Discourse ist besser als Facebook, Twitter oder Chats“, https://netzwissen.de/2023/01/22/discourse-ist-besser-als-facebook-twitter-oder-chats/ , abgerufen am 22.02.2023

15 Der Kreisverband kauft aktuell von Verdigado eG die Bereitstellung eines Mailing-Dienstes auf der Basis von Sympa, erreichbar unter https://lists.gruene-worms.de/sympa, über den unter anderem für die Arbeitskreise Mailinglisten verwaltet werden.

16 https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_21.html

17 In diesem Zusammenhang besteht in den Regularien möglicherweise Nachbesserungsbedarf, weil zuweilen beobachtbar ist, dass sich Arbeitsgruppen oder „Stammtische“ als de facto geschlossene Gruppen konstituieren, die eben nicht mitgliederöffentlich zugänglich sind und dennoch Legitimität im Sinne eines Arbeitskreises proklamieren

18 https://www.worms.de/neu-de/zukunft-gestalten/politik-und-wahlen/

19 https://www.worms.de/neu-de/zukunft-gestalten/politik-und-wahlen/buergerbeteiligung/

20 Die immer wieder laut werdende Vorstellung, Politiker müssten idealerweise „Fachleute“ sein, ist problematisch und im Grunde undemokratisch, weil eine vermeintliche „Expertise“ zur Legitimation des Mitspracherechts verkommt, während das Mitspracherecht aller „Nicht-Experten“ geschwächt wird.

21 Bürgerbeteiligung konstituiert in diesem Zusammenhang einen regelrechten Markt für Dienstleister aller Art, sorgt für einen Aufwuchs an Verwaltungspersonal, das für solche Beteiligungsprozesse zuständig ist und neigt durch entsprechende Interessen und Eigenlogiken womöglich zur Autopoiesis ohne echten Anreiz, zum Abschluss zu gelangen

22 Vgl. hier die oft gehörte Klage, die Politik handle nicht, obwohl die Konzepte doch bekannt seien. Diese Klage wird oft erhoben, als ob man selbst mit der Politik keine Verbindung habe, worin eben genau das Problem besteht


Autoren:

Florian Dieckmann,
Florian Wolf

25.02.2023

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