Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, 7. Auflage. Göttingen: European Photography, 1994 (Exzerpt)

Das Bild ist für den Menschen der Zugang zur Welt. Das Bild soll Zugang sein, aber es verstellt sie, bis Bilder die Realität des Menschen sind. Das Bild führt zum Irrtum über die Wirklichkeit. Der Kampf der Schrift gegen das Bild ist der Kampf des Geschichtsbewußtseins gegen die Magie. Denn begriffliches Denken ist abstrakter als bildliches Denken. So ist der Text fähig uns durch einen textlich erzeugten Irrglauben unfähig zu machen, die bildliche Wirklichkeit zu sehen. Ein Beispiel sind die Ideologien, die die Welt umwerten und unsere Wahrnehmung verändern.

Traditionelle Bilder haben Symbolcharakter. Die Fotografie ist der Kampf gegen die textlich verursachte Unfähigkeit zur Wahrnehmung der Welt. Infolge der Fotographie verschwinden die traditionellen Bilder in die Getthos der Museen und ihr Symbolcharakter verliert seinen Einfluß auf das tägliche Leben. Technische Bilder machen die Dinge jedoch nicht vorstellbar, sondern verfälschen sie durch die Darstellung wissenschaftlicher Aussagen. Denn in den Bildern gewinnen die wissenschaftlichen Aussagen magischen Charakter.

Der Fotograf erzeugt, behandelt und speichert Symbole. Flusser unterscheidet daher Knipser von Fotografen. Der Fotograf ist dabei nicht absolut Herr seines Tuns. Seine Arbeit wird vom Zufall und den vorbestimmten Möglichkeiten seines Apparats bestimmt. Er ist der Funktionär seines Apparats. Denn: „Funktionäre beherrschen ein Spiel, für das sie nicht kompetent sein können. Flusser verweist auf Kafka.

Fotografie ist ein Segment des Marktes. Der Fotoapparat funktioniert für die Fotoindustrie. Nicht der Besitzer des Apparates ist mächtig, sondern sein Hersteller und Vermarkter.

Fotogragfieren ist durch die im Apparat festgelegten Kategorien festgelegt. „In der Fotogeste tut der Apparat, was der Fotograf will und der Fotograf muß wollen, was der Apparat kann.“ (S.33) Außeraparatische Kriterien – bspw. ästhetische, erkenntnistheoretische oder politische Kriterien, bleiben dem Apparateprogramm unterworfen.

Fotografieren ist ideologiefeindlich, da es darum geht, so viele Standpunkte wie möglich zu realisieren. Die Entscheidung des Fotografen – das Auslösen – ist lediglich ein Bruchteil einer Kette von Entscheidungen. Auch die bewußte Auswahl einiger Fotos ist nur ein Bruchteil dieser Kette.

Fotografie bedeutet, die von sozio-ökonomischen Apparaten programmierten Begriffe aufzuzeigen. Fotografie ist daher ein „Symbolkomplex von abstrakten Begriffen“ [..] zu symbolischen Sachverhalten umcodierte Diskurse“ (S.41)

Für den Fotografen sind daher seine eigenen Begriffe die Hauptsache beim Fotografieren. Daraus folgt der Versuch der Unterwerfung des Fotoapparats unter die eigene Absicht. Glückt dieser Versuch, so ist dies der Sieg über den Apparat im Sinne der menschlichen Absicht.

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das absichtlich unwahrscheinlich geformte, informierte Gegenstände schafft und mit ihnen bewußt seine Existenz bezeugt. Daraus folgt, daß nicht der Besitz des Erzeugnis, sondern seine Erzeugung, hier: die Erzeugung von Information, Macht ist.

Die Information wird über Kanäle verteilt, insbesondere Informationen, die dinglich sind und dingliche Distributionskanäle benötigen. „So gibt es Kanäle für angeblich beweisträchtige Fotos (zum Beispiel wissenschaftliche Publikationen und Reportagemagazine), für angeblich auffordernde Fotos (z.B. politische und kommerzielle Werbeplakate) und Kanäle für angeblich künstlerische Fotos (zum Beispiel Galerien und Kunstzeitschriften) Kanäle färben Fotografien mit der für ihren Empfangszweck entscheidenden Bedeutung. Daher verändert ein Foto seine Bedeutung, sobald es den Kanal wechselt. In jedem Foto ist daher der Kampf zwischen Kanal und Fotograf zu erkennen.

Fotografie ist ein durch Werbung geschaffener Markt. Fotoamateurclubs sind Orte der Berauschung an der Komplexität der Fotoapparate [assoziiere Computer, etc.] Der wahre Fotograf ist daher nicht der Apparat-Abhängige, sondern derjenige, der immer wieder an einem neuen sehen interessiert ist. Die Bilderflut impliziert den Glauben zu wissen, wie Bilder gemacht werden und was sie bedeuten. Die drohende Gefahr ist der Analphabetismus in einer sich überall in Bildern erklärenden Welt. Schreiben und Lesen verkommt zum Spezialwissen. Die Folge ist plakatives Denken statt differenziertem Denken. Plakatives Denken bedeutet das Ende des kritischen Denkens. Durch die Bilderflut setzt ein Gewöhnungseffekt ein. Man gewöhnt sich an die visuelle Umweltverschmutzung Die Herausforderung besteht darin, ihr informative Bilder entgegenzusetzen.

So leben wir in einem Fotouniversum: Die Welt wird in Funktion von Fotos erlebt. Die Wahrnehmung verändert sich so von einer fließenden Wahrnehmung in das Stakkato von Bildern, das die Welt nur noch als Zusammensetzung von Bildern erleben läßt.

Die eigentliche Absicht der Apparate ist, den Menschen von der Arbeit zu emanzipieren. Doch der Mensch wird so durch den Apparat ausgeschaltet. Er wird zum Funktionär. Apparate sind „simplifizierte Simulationen von menschlichen Denkprozessen, die, eben weil sie so stur sind, menschliche Entscheidungen überflüssig und funktionell machen.“ (S.67)


Zuerst veröffentlicht am 31.12.2007